Die englische Nationalmannschaft hat den wahrscheinlich wertvollsten Kader der Europameisterschaft und steckt dennoch in einem Formtief. Nur eines der letzten fünf Spiele wurde gewonnen. Nationaltrainer Southgate steht in der Kritik. Gelingt pünktlich zur EM die Wende?

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Die Generalprobe vor der Europameisterschaft ging ordentlich schief. Am Freitag der vergangenen Woche unterlag die englische Nationalmannschaft gegen Island mit 0:1. Einem Gegner also, der sich nicht einmal für die EM qualifiziert hat und im Fifa-Ranking nur auf Platz 73 steht. Die englische Mannschaft rund um Bayern-Star Harry Kane hat damit nur eines der letzten fünf Spiele gewonnen.

Die Kritik in der Heimat ist groß. Die englische Boulevard-Zeitung "The Sun" empfand das Spiel als eine "Demütigung", mit der die Titel-Hoffnungen von England "ins Lächerliche" gezogen worden seien. Kane übte sich in Optimismus und schrieb bei Instagram: "Das war nicht so, wie wir uns zur Euro verabschieden wollten, aber es gibt viel zu lernen und wir werden stärker!"

Die englische Nationalmannschaft wäre auf dem Papier eigentlich der logische Titelfavorit. Stürmer Kane, Mittelfeldspieler Jude Bellingham (Real Madrid), die Flügelspieler Phil Foden und Bukayo Saka oder Mittelfeldspieler Declan Rice gehören auf ihren Positionen zu den besten Spielern der Welt.

Bemerkenswert: Laut dem Fußball-Portal "transfermarkt.de" sind vier der sechs wertvollsten Spieler der Europameisterschaft englische Nationalspieler. Nur der Franzose Kylian Mbappe und der Deutsche Florian Wirtz stoßen ansonsten noch in diese Dimensionen vor. Der englische Kader ist mit einem geschätzten Marktwert von 1,52 Milliarden Euro der wertvollste der EM.

Nationaltrainer hat "vielleicht die letzte Chance"

Dementsprechend groß ist der Druck. Nationaltrainer Gareth Southgate befindet sich in seinem letzten Vertragsjahr und sagte im Interview mit der "Sport Bild" im Hinblick auf die EM ganz offen: "Wenn wir nicht gewinnen, werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein. Dann war es vielleicht die letzte Chance."

Southgate ist bereits seit 2016 Trainer der englischen Nationalmannschaft. Seine größten Erfolge waren der 2. Platz bei der EM 2021 und der 4. Platz bei der WM 2018. Bei der WM 2022 scheiterte England bereits im Viertelfinale.

Southgate ist überzeugt davon, dass er nun die stärkste Mannschaft seiner Amtszeit hat. "Wir haben vor allem in der Offensive eine super Tiefe im Kader. Die Mannschaft hat sich seit der letzten Weltmeisterschaft weiterentwickelt und mehr Erfahrung gesammelt."

Doch so stark die Offensive sein mag, so unsicher erscheint momentan die Verteidigung. Der Top-Innenverteidiger Harry Maguire von Manchester United verpasst die Europameisterschaft aufgrund einer Wadenverletzung. Sein Vereinskollege, der Außenverteidiger Luke Shaw, steht zwar im EM-Kader, hat aber verletzungsbedingt seit Februar nicht mehr gespielt.

Merkwürdige Nominierungen, defensive Ausrichtung

Überhaupt traf Southgate bei der Zusammenstellung des Kaders einige merkwürdige Entscheidungen. Innenverteidiger Eric Dier wurde nicht nominiert, obwohl er beim FC Bayern München eine überragende Rückrunde spielte. Auch BVB-Leihspieler Jadon Sancho sowie die Flügelspieler Marcus Rashford (Manchester United) und Jack Grealish (Manchester City) stehen nicht im Kader. Dafür sind zwölf Spieler mit dabei, die noch keine Turniererfahrung haben.

Sollte England keine erfolgreiche Europameisterschaft spielen, dürften die Nominierungen von Southgate noch einmal ordentlich hinterfragt werden. Zumal die Kritik an seiner Person ohnehin groß ist. Seit Jahren wird bemängelt, dass er bei seinen Aufstellungen zu defensiv denkt. Besonders auffällig war dies, als er beim EM-Finale 2021 gegen Italien sieben gelernte Defensivspieler auf den Platz stellte. Die Folge: England verlor im Elfmeterschießen.

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Der englische Fußball: starke Liga, erfolglose Nationalmannschaft

Die englische Premier League gilt als die reichste und somit wohl auch beste Fußball-Liga der Welt. Dennoch gewann die englische Nationalmannschaft bislang nur einen einzigen Titel – und zwar bei der Weltmeisterschaft 1966. Dies auch noch sehr umstritten, weil bis heute nicht geklärt ist, ob der Ball beim entscheidenden "Wembley-Tor" im Finale gegen Deutschland überhaupt hinter der Linie war.

Der frühere englische Nationaltrainer Fabio Capello hat eine These, warum Erfolge in den vergangenen Jahren ausblieben: "Ihre Mittelfeldspieler und Stürmer sind die besten. Das einzige Problem ist, dass sie, wenn sie gewinnen können, es manchmal mit der Angst zu tun bekommen."

Das würde bedeuten: Den Superstars aus England fehlt die Gewinner-Mentalität.

Southgate warnt vor einem Vorrunden-Aus

Immerhin hat England bei der EM eine der wahrscheinlich leichtesten Gruppen abbekommen. Nach dem ersten Spiel am Sonntag (21:00) gegen Serbien sind Dänemark und Slowenien die weiteren Gegner. Doch Southgate warnt: "Die Partien werden nicht auf dem Papier ausgetragen. Ich habe schon viele als Favoriten gehandelte Teams erlebt, die es nicht geschafft haben, die Gruppenphase zu überstehen."

Ob das auch England passieren könnte? Die Testspiel-Pleite gegen Island dürfte diese Angst jedenfalls verschärft haben.

Verwendete Quellen

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