Deutschland verliert sein zweites Spiel bei der WM 2023 mit 1:2 gegen Kolumbien – und scheint dennoch zufrieden zu sein. Ignoriert das DFB-Team längst bekannte Probleme?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Justin Kraft sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als Lena Oberdorf in der 73. Minute den Ball im Mittelfeld erhält, sich umdreht und keine Mitspielerin in vorderen Positionen entdeckt, dreht sie wieder ab und spielt ihn nach einigen Sekunden zurück zu einer Abwehrspielerin. Wieder wendet sie sich nach vorn, zuckt mit den Schultern und ruft ihren Kolleginnen verzweifelt etwas zu.

Mehr News zur Fußball-WM

Es ist unschwer zu erkennen, dass sie sich beschwert. Über mangelnde Optionen, ein träges Freilaufverhalten und die Tatsache, dass sie ständig Kolumbianerinnen auf ihren Füßen hat, weil sie den Ball nicht schnell weiterverteilen kann. Zwar ist es nur ein kleiner Moment innerhalb eines langen Spiels, doch er ist bezeichnend.

Ratlosigkeit, Trägheit, irgendwie auch kein echtes Aufbäumen – in der Schlussphase deutet wenig darauf hin, dass Deutschland den 0:1-Rückstand nochmal drehen kann. Zwar sehen die Bundestrainerin und ihre Spielerinnen das nach der Partie anders, doch abseits eines hohen Ballbesitzwertes gelang Deutschland offensiv nur wenig.

DFB-Team zufrieden mit harmloser Leistung

"Wir hatten das Spiel grundsätzlich im Griff", resümierte im "ZDF" etwa Alexandra Popp, die im Vergleich zum ersten Gruppenspiel gegen Marokko einen glücklosen Auftritt hatte. "Ich hatte eher das Gefühl, dass wir in Führung gehen könnten", ergänzte Martina Voss-Tecklenburg, die ihrem Team sogar ein "großes Kompliment" dafür aussprach, nach dem Rückstand zurückzukommen.

In der 89. Minute verwandelte Popp einen Elfmeter zum sicher geglaubten Punkt. In der Entstehung schafften es die Deutschen erstmals, sich durch die Mitte zu kombinieren und die kolumbianische Defensive zu überraschen. Am Ende einer schönen Passstafette wurde Oberdorf für einen klugen Lauf in die Tiefe belohnt – und anschließend von Torhüterin Catalina Perez gefoult.

Doch strenggenommen war es die einzige Szene, in der Deutschland strukturiert zu einer Großchance kam. Viele andere Abschlüsse kamen aus der Distanz oder entstanden zufällig. Im Spiel nach vorn gab es lange nur ein Schema: Langer Ball auf Popp, die anschließend per Kopf verlängerte. Darauf folgte ein zweites: Viel Flügelspiel mit wenig Ertrag.

25 Flanken flogen in den kolumbianischen Strafraum, fünf davon kamen an. Das DFB-Team schaffte es nicht, Klara Bühl und Jule Brand in Szene zu setzen. Beide bekamen kaum Unterstützung und hatten dementsprechend nur selten Mitspielerinnen im Halbraum, um mal zu kombinieren, statt in die nächste Unterzahlsituation zu dribbeln. Brand gewann nur eines von fünf Dribblings, Bühl immerhin noch fünf von neun. Doch beide hatten es aufgrund mangelnder Anbindung schwer.

Deutschland hat auch defensiv Probleme

Auch die defensive Leistung kann durchaus kritischer betrachtet werden. Zwar kam Kolumbien ebenfalls nur selten richtig gefährlich vor das deutsche Tor, doch das lag nicht ausschließlich an einer guten Teamleistung des DFB-Teams.

Taktisch lief man wie schon gegen Marokko in zu viele Konter, weil der Ball im Mittelfeld leichtfertig hergeschenkt wurde. Die starke individuelle Leistung von Sara Doorsoun verhinderte allerdings im ersten Durchgang Schlimmeres. In der zweiten Halbzeit zog sich Kolumbien vor allem nach der Führung zunehmend zurück.

Dass Svenja Huth keine Außenverteidigerin ist, ist ihr in jedem Defensivzweikampf anzumerken. Überhastet und mit viel Aggressivität versucht sie ihre oftmals körperliche Unterlegenheit zu kompensieren. Dabei reißt sie allerdings Löcher auf, die die schnellen Spielerinnen Kolumbiens mehrfach nutzten. Auf der anderen Seite konnte Chantal Hagel nicht für Stabilität sorgen. Neben einigen leichtfertigen Ballverlusten schien sie defensiv mit dem Tempo von Mayra Ramírez und Lady Andrade überfordert zu sein.

Zu viel Optimismus beim DFB-Team?

Für das letzte Spiel gegen Südkorea gibt es also einiges zu analysieren. Umso mehr überrascht es, dass es nach Abpfiff wenig Unzufriedenheit über die eigene Leistung gab. Auch Doorsoun sprach über viel Leidenschaft und war bemüht darum, dem Geschehen einen positiven Dreh zu geben.

Klar ist, dass Kolumbien kein einfacher Gegner war. Neben ihrer im Vorfeld häufig hervorgehobenen Körperlichkeit verfügen sie über ein temporeiches und technisch hochwertiges Offensivspiel. Insofern ist die Leistung der Deutschen nicht ausschließlich negativ zu bewerten.

Und doch fehlte es sowohl vor als auch nach dem Abpfiff an Energie. Unzufriedenheit und Selbstkritik können Katalysatoren sein. Im richtigen Maß können sie beflügeln und dazu führen, dass die Spielerinnen über sich hinauswachsen. In der Schlussphase hat genau das gefehlt. Deutschland lief zwar an, doch im letzten Drittel fehlte es neben richtigen Ideen auch schlichtweg an Geschwindigkeit und Durchschlagskraft.

DFB-Team: Längst bekannte Probleme zeigen sich

Der Optimismus des deutschen Teams kann eine Stärke sein. Die Europameisterschaft in England vor gut einem Jahr hat das unter Beweis gestellt. Wenn die Zweifel von außen am größten wurden, waren sie am stärksten.

Und doch scheint die Situation diesmal eine andere zu sein. Es wirkt fast so, als würden offensichtliche Probleme ignoriert werden. Die allerseits gelobte Spielkontrolle war mehr Schein als Sein. Ständige Ballverluste im Spielaufbau erschweren es, Rhythmus ins eigene Spiel zu bekommen. So wird es gegen viele Nationen bei dieser WM schwer.

Zumal diese Probleme nicht neu sind. Deutschland tut sich schon seit Jahren schwer damit, gegen gut organisierte Defensivreihen spielerische Lösungen zu entwickeln. Oft ist Popp mit ihrer Kopfballstärke der Ausweg. Erwischt die Stürmerin allerdings einen Tag wie gegen Kolumbien, wird es zäh. Der Erfolg bei der EM hat den Kritikpunkt verstummen lassen.

Damals konnte Deutschland in den meisten Spielen aber eine andere Art von Fußball spielen. Weniger Ballbesitz, mehr Überraschungs- und Umschaltmomente. Als Mitfavoriten auf den WM-Titel hat sich die Spielanlage verändert. Damit umzugehen, ist die größte Herausforderung. Und genau deshalb ist die verzweifelt nach Mitspielerinnen suchende Oberdorf in der 73. Minute so bezeichnend für die aktuelle Situation.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.