Was soll ich sagen: Endlich Europameisterschaft. Die Garantie, dass das Sommerloch dieses Jahr weniger wie der Grand Canyon, sondern eher wie ein Putting-Hole beim Minigolf daherkommt.

Marie von den Benken
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Sogar Berlin-Charlottenburg, wo ich als Vorzeige-Neumutter täglich mit einem sportlichen Kinderwagen durchflaniere und das sich sonst oft auf seinen weltstädtischen Charme des Kudamms, der Theater und der In-Lokale verlässt, putzt sich raus. Es gibt kaum einen Ort, der so sehr für das deutsche Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre steht, wie der Kurfürstendamm.

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Hier, wo Leuchtreklamen für Luxusartikel, die sich kaum jemand leisten konnte, die Tristesse und Melancholie der Nachkriegsjahre überstrahlten, pulsierte schon immer das Herz des Aufschwungs. Jedenfalls, bis irgendwann Drogerieketten, Fast-Fashion-Silos, Fast-Food-Ketten und US-Franchise-Flagship-Stores die glamourösen Edelkaufhäuser, Schneider, Schuhläden und Milchbars ablösten. Hier jedenfalls, wo heute 1-Euro-Burger aus Massentierhaltung statt feinstes italienisches Tuch feilgeboten werden, ist alles in EM-Stimmung.

Der Bolzmonat, die Alternative zum gleichzeitig stattfindenden Stolzmonat, kann kommen. Stolzmonat, das nur zur Einordnung, ist übrigens ein Patriotismus-Wettbewerb, der von Diskursteilnehmern ins Leben gerufen wurden, die offenbar denken, die Nationalfarben der Bundesrepublik wären Schwarz-Kackbraun-Dünpfiffbraun-Rot-Eiterorange-Pissgelb-Popelgelb-Gold.

Einen kleinen Vorgeschmack gab es darauf schon zum DFB-Pokalendspiel, als die Überraschungs-Finalisten aus Kaiserslautern das Stadtbild übernahmen, dieser Tage beseelt König Fußball aber wirklich jeden Quadratmeter dieser einstigen Vorzeige-Flaniermeile. Die Sehnsucht nach einem neuen Sommermärchen vermischt sich mit der geschäftstüchtigen Hochrechnung auf neue Umsatzrekorde im Kaltgetränkeausschank. Und so konnte ich diese Woche an jeder Ecke eifrige Gastronomen beobachten, die pünktlich zum Auftaktspiel hektisch einige Fernsehmonitore von der Fläche meiner ersten Wohnung in New York aufbauten. 3.600 Dollar für 18 Quadratmeter, danke an dieser Stelle noch mal für das Konzept Marktwirtschaft. Bildschirmpädagogisch optimal aufgestellt ging es dann also rein in diese Fußball-Europameisterschaft, die standesgemäß und stimmungsbefördernd mit einem 90 Minuten lang ungefährdeten 5:1 Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Schottland startete.

Rassismus bei der Tagesschau?

Ein optimaler Auftakt in den EM-Sommer, der sich auch von den zahlreichen Nebenkriegsschauplätzen nicht beirren ließ. Denn auch vor diesem Turnier gaben sich Berufs-Pessimisten, Hartrechts-Journalisten und selbsternannte Stimmungsexperten die Klinke dabei in die Hand, die geplanten Florian-Wirtz- und Jamal-Musiala-Festspiele schon im Vorfeld mit sinnbefreiten Pseudodiskussionen abzuwürgen. Die deutschen Fans wünschten sich mehr "Weiße" in der Nationalmannschaft, hieß es da beispielsweise seitens der Tagesschau, deren ansonsten mit Pro-Hamas-Propaganda recht ausgelasteten Nachwuchsredakteure Spieler wie Leroy Sané phänotypisch offenbar nicht arisch genug wirken.

Gleichzeitig brachen als Nachrichten-Portale getarnte AfD-Begleit-StartUps einen Hetz-Marathon vom Zaun, weil der deutsche Innenverteidiger Antonio Rüdiger mit einem sogenannten Islamisten-Gruß erwischt worden sein soll. Nun kann man von der Geste mit dem erhobenen Zeigefinger halten, was man möchte, und womöglich handelt es sich sogar um eine kalkulierte Provokation eines hochrangigen Nationalspielers und Champions-League-Siegers mit Real Madrid, von dem man sich als Vorbild für Millionen Jugendliche einen etwas sorgsameren Umgang mit Gesten in der Öffentlichkeit gewünscht hätte - einen Zeigefinder jedoch zum Startschuss für ein herannahendes Kalifat hochzustilisieren, ist dann allerdings ebenfalls diskursbereinigt nicht sehr zielführend.

Fans will be Fans

Wenn jeder stramm ausgestreckte Zeigefinger jetzt neuerdings ein manifestierter Gruß unter gewaltbereiten Religionskämpfern sein soll, hätte man allein in der abgelaufenen Bundesliga-Saison etwa 200 Profifußballer und einige hunderttausend Fans unter Terrorverdacht stellen müssen. Darunter friedliebende Allesversteher wie Mats Hummels oder Leon Goretzka.

Stichwort Goretzka. Nachdem die Leistungen des Mittelfeldmotors vom FC Bayern zuletzt wieder knapp an die Mindestanforderungen für etwa 18 Millionen Euro Jahresgehalt ran reichten, hatte man sich bei den intellektuellen Qualitätsfans des Rekordmeisters darauf festgelegt, dass ein Verzicht auf Goretzka den EM-Kader derartig schwächen würde, als hätte man sämtlichen zentralen Box-to-Box-Spielern pünktlich zum Turnierstart beide Beine gebrochen. Als dann nach der Verletzung von Jungstar Aleksandar Pavlović vom Bundestrainer auch noch der formoriginelle Emre Can von Borussia Dortmund statt Goretzka nachnominiert wurde, brannten die Synapsen endgültig lichterloh.

Pikant dabei sind vor allem zwei Dinge: Julian Nagelsmann hatte Goretzka vor seiner Demission als Bayern-Trainer im Zuge des Tuchel-Fiaskos selbst lange trainiert, ihn aber offenbar (ausschließlich leistungstechnisch versteht sich) nicht unbedingt in sein Herz geschlossen. Nagelsmann war demnach von der Elitefan-Fraktion aus München zum Abschuss freigegeben, konnte den Kopf aber mit der schon angesprochenen, grundstabilen 5:1-Klatsche für Schottland aus der berühmten Schlinge ziehen. Dass der zwei Tage zuvor aus dem Urlaub nachnominierte Can kurz vor Schluss eingewechselt wurde und anschließend direkt zum 5:1 Endstand einnetzte, darf getrost als einer der ersten Nagelsmann-Wirkungstreffer gegen seinen Ex-Club eingeordnet werden.

Dabei sind die Kunden ... äh, sorry ... Fans des FC Bayern München diesen Sommer ohnehin schon geplagt genug. Zunächst ging der fest eingeplante ungefähr 358. Titel in Serie unangemeldet an die Systemfußball-Nestbeschmutzer von Bayer 04 Leverkusen, dann signalisierten 49 umworbene Trainer, dass sie ihre Zukunft ganz sicher nicht an der Säbener Straße sehen würden - und als endgültige Demütigung stand am 34. Spieltag mit der Discounter-Truppe vom VfB Stuttgart sogar ein Verein vor den Bayern in der Abschlusstabelle, der im Vorjahr noch in der Relegation um den Nichtabstieg gespielt hatte. Um das Skandaljahr komplett zu machen, enterten schottische Fußballfans vor dem Auftaktspiel den Münchener Marienplatz, bis die Polizei weiteren Zulauf untersagen musste. Plötzlich standen mitten in München ausgelassen feiernde Fans in einer Größenordnung, für die man die vergangenen zehn Meistertitel der Bayern vermutlich kombinieren müsste. Verständlich, dass da das Mia san Mia Gefühl ein wenig ramponiert ist.

Taiwan spielt gar nicht bei der EM

Stichwort Fans: Ein besonderes Erlebnis verbuchten derweil die schottischen Nachbarn aus England. Das weitestgehend vollzählig angereiste Fan-Lager fand sich zielgenau zum ersten Spiel der Three Lions am Spielort Gelsenkirchen ein, zeigte sich aber flächendeckend entsetzt über die optischen Anreize der Heimatstadt von Schalke 04. Offenbar hatten die meisten britischen Schlachtenbummler vor dem Abflug noch schnell nach typischen deutschen Sehenswürdigkeiten gegoogelt und waren daher davon ausgegangen, Gelsenkirchen müsste etwa so aussehen wie das Schloss Neuschwanstein.

Sehr viel weniger enttäuscht wurden diese Woche übrigens Fans einer etwas anderen Sportart. Dem virtuellen Drachenbootfahren. Diese vor allem als Virtual-Reality-Version durchaus generationsübergreifend anregende Beschäftigung durfte ich zuletzt auf der Taiwan Expo 2024 erleben. Anders, als viele dachten, greift Taiwan in die Fußball-Europameisterschaft nicht ein - was aber an der geografischen Hürde jetzt mal prinzipiell nicht liegen kann. Immerhin wirkt auch Australien beim ESC mit, und der heißt offiziell immerhin "Eurovision Song Contest".

Am Stand der "Taiwan Excellence" gab es statt Stadionwurst und Fangesängen zwar in erster Linie die neuesten technischen Gadgets zu entdecken, quasi eine firmenunabhängige Apple Keynote, aber als Reminiszenz an König Fußball auf der großen Showbühne sogar einen Hochhalte-Wettbewerb. Fußball-Genies interessieren sich allerdings augenscheinlich nicht so sehr für Drachenbootrennen, denn der Gewinner des Wettbewerbs holte den Sieg mit nur 11 Ballberührungen. Mal zur Einordnung: Einen Ball 11-mal hochhalten und dann zu gewinnen, ist wie den Song "Cherie, Cherie Lady" zu schreiben und sich dann als neuer Mozart zu bezeichnen. Dass Deutschlands zweitbester TV-Gagautor Alexander Diekmann vor Ort ebenfalls in das Fußballgeschehen eingriff, mit mageren acht Berührungen abschloss und damit noch nicht mal das Treppchen erreichte, verschweige ich an dieser Stelle.

Auch, dass Techblogger-Ikone Sascha Pallenberg, der selbst seit Jahren in Taiwan lebt, sich dieses Innovations- und Fußballfeuerwerk entgehen ließ, möchte ich nicht kommentieren. Das ist ein bisschen so, als würde der Finale von "Germany´s Next Topmodel" laufen, aber Heidi Klum liegt irgendwo in einem Hotelbett und steckt sich vegane Weingummis zwischen die Zehen. Naja, dafür hat Klum diese Woche aber - genau wie die Bayernfans - ihr persönliches Waterloo erlebt. Bei "Germany´s Next Topdogge" taucht plötzlich eine unbeteiligte Hundetrainerin auf und erläutert wortreich, warum ihr die Hunde der ProSieben-Castingdirektorin leidtun. Was genau dahinter steckt, konnte ich mir auch nicht merken, aber Heidi Klum und Ehemann Tom Kaulitz hatten sich vor einiger Zeit spontan zwei Hunde zugelegt, die sie "Jäger" und "Uschi" nannten und über deren Erziehung und Haltungsvorgaben sie wohl noch weniger wissen als der HSV vom Aufstieg. Immerhin sind "Jäger" und "Uschi" keine vollkommen unpassenden Namen für Hunde. Von jemandem, der seine Brüste "Hans" und "Franz" nennt, hätte man da auch Verwirrenderes erwarten können. Wie meine Brüste heißen, verrate ich hier dann nächste Woche. Vielleicht. Bis dann.

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