- Die gemeinsame Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP sollte ein Fortschrittsbündnis sein.
- Inzwischen vergeht kaum ein Tag ohne öffentlichen Streit in der Ampel-Koalition.
- Der Politikwissenschaftler Uwe Jun glaubt nicht, dass das Bündnis platzt. Er sagt aber auch: Ihr Versprechen für eine visionäre Politik muss die Koalition noch einlösen.
Mit ehrgeizigen Zielen und gut klingenden Überschriften ist die Koalition vor rund einem halben Jahr gestartet. "Fortschrittskoalition" haben SPD, Grüne und FDP ihre gemeinsame Bundesregierung genannt. Im gemeinsamen Koalitionsvertrag hieß es: "Wenn wir es schaffen, gemeinsam die Dinge voranzutreiben, kann das ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein sein: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können."
Heute hört sich das etwas anders an. "Die Ampel ist nie unsere Wunschkoalition gewesen", stellte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai vor Kurzem in einem Interview mit den Funke-Medien klar. Die Liberalen seien sie vor allem aus staatspolitischer Verantwortung eingegangen. "Jetzt müssen wir das Beste daraus machen." Das klingt eher nach: Augen zu und durch.
Übergewinnsteuer, Corona-Politik, Tierwohllabel: Darüber streitet die Ampel
Djir-Sarais nüchterne Äußerung passt zum aktuellen Bild, das die Koalition abgibt. Es vergeht kaum ein Tag ohne eine öffentliche Meinungsverschiedenheit zwischen roten, gelben und grünen Spitzenpolitikerinnen und -politikern. Eine Auswahl:
- Schuldenbremse: Die Ampel-Koalition verspricht massive Investitionen, um das Land zu modernisieren – etwa in Digitalisierung, Verkehrsinfrastruktur und Klimaschutz. Bundesfinanzminister und FDP-Chef
Christian Lindner will im kommenden Jahr aber keine zusätzlichen Schulden aufnehmen. Die SPD-Co-VorsitzendeSaskia Esken sagte dagegen im Interview mit dem "Tagesspiegel": "Über die Schuldenbremse oder andere Wege der Finanzierung werden wir in der Koalition sprechen müssen." - Übergewinnsteuer: Die Grünen-Co-Vorsitzende
Ricarda Lang hat eine einmalige Extra-Steuer für Unternehmen vorgeschlagen, die wegen des Krieges in der Ukraine und seinen Folgen besonders große Gewinne machen (zum Beispiel Mineralöl-Konzerne). Die SPD findet das Konzept richtig. Von der FDP kommt ein klares Nein. Die Liberalen hatten im Wahlkampf versprochen, keine neuen Steuern zu erheben. "Wer den wirtschaftlichen Aufschwung und die Bekämpfung jetzt noch erschweren will, der spricht jetzt noch über zusätzliche steuerliche Belastungen", sagte Christian Lindner in einem Pressestatement. - Corona-Politik: Der Streit um den richtigen Kurs in der Corona-Bekämpfung beschäftigt die Ampel seit ihrem Start. Die FDP hat durchgesetzt, die epidemische Notlage und Schutzmaßnahmen zu beenden. SPD und Grüne warnen vor höheren Infektionszahlen im kommenden Herbst und wollen jetzt vorsorgen. Der nächste Streit um eine Grundsatzfrage steht damit vor der Tür: Ist die Pandemiebekämpfung Aufgabe des Staates? Oder liegt sie in der Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger?
- Tierwohllabel: Bundeslandwirtschaftsminister
Cem Özdemir (Grüne) will eine staatliche Tierwohl-Kennzeichnung einführen: Verbraucher sollen leichter erkennen, in welcher Form das Tier gehalten wurde. Auf dieses Label hatten sich die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Von Christian Lindner kommt trotzdem ein Veto: Er befürchtet, dass durch ein Label auch die Preise steigen: "Ich kann nicht verstehen, dass man angesichts von steigenden Lebensmittelpreisen jetzt politisch noch höhere Preise will", sagte er. - Bürgergeld: Die Ampel will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen, SPD und Grüne wollen die Sozialleistung dann auch erhöhen. Von Finanzminister Christian Lindner kam auch hier ein Nein: "Das geplante Bürgergeld der Ampel-Koalition ist nicht zu verstehen als eine Ausweitung sozialer Umverteilung."
- Verbrennungsmotor: In der EU sollen ab 2035 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) freute sich über den Schritt. Ihr Kollege, Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), äußerte dagegen Unverständnis: Er will, dass auch nach 2035 noch Verbrenner-Autos zugelassen werden, wenn sie mit synthetischen Kraftstoffen betankt werden.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Etwa mit der Dauerdiskussion über ein Tempolimit oder die Frage nach längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke. Oder mit dem Streit um den umstrittenen Tankrabatt: FDP und Grüne weisen sich gegenseitig die Verantwortung für die konstant hohen Spritpreise zu. "Leute! Lasst uns das besser machen", schrieb der stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende
Inhaltliche Gegensätze – und ein Finanzminister unter Druck
"Es gibt in jeder Koalition Abstimmungsprobleme, die die Parteien durch Kompromisse lösen müssen", sagt der Politikwissenschaftler Uwe Jun, Professor an der Universität Trier, im Gespräch mit unserer Redaktion. Auf der anderen Seite sei die Ampel aber auch "schlicht und ergreifend eine ungewöhnliche Koalition".
In sozio-ökonomischer Hinsicht sei die FDP von SPD und Grünen sehr weit entfernt. "Man hat versucht, aus dieser Koalition trotzdem ein Projekt unter den Überschriften Zukunft und Fortschritt zu machen", sagt Jun. "Allerdings definieren die drei Parteien diese Begriffe unterschiedlich. Während die SPD den sozialen Fortschritt hervorhebt, sehen die Grünen vor allem Veränderungen der Umwelt- und Klimapolitik als Fortschritt und die Liberalen wiederum Felder wie Digitalisierung und Bildung."
Verschärft werden die Unterschiede noch durch ein ungleiches Kräfteverhältnis in den Umfragen: Die Grünen erhalten vor allem wegen der Arbeit von Außenministerin
Zu Beginn der Koalition hatte die FDP noch den Eindruck erweckt, als kleinster Partner den Ton in der Koalition anzugeben. Doch Steuererhöhungen verhindert zu haben, wird nicht reichen, um die eigene Wählerschaft über vier Jahre von der Koalition zu überzeugen. Auch parteiintern steht Lindner unter Druck. Die Basis erwartet eine deutlichere liberale Handschrift. Dem Tagesspiegel (Bezahlinhalt) sagte ein namentlich nicht genannter FDP-Politiker: "Lindner benimmt sich wie eine Gottheit, aber die Götterdämmerung hat bereits begonnen."
Saskia Esken: Öffentlicher Streit dient auch der Profilbildung
Nicht umsonst steht Christian Lindner im Mittelpunkt vieler Konflikte, denn bei den Finanzen prallen in der Ampel-Koalition Welten aufeinander: SPD und Grüne wollen massiv investieren, die Liberalen wollen aber weder Schulden noch Steuern erhöhen. Die Finanzpolitik sei die Sollbruchstelle dieser Koalition, hatte eine Abgeordnete schon Anfang des Jahres gesagt. Der Krieg in der Ukraine und die Inflation haben diese Situation noch verschärft.
Kann die Koalition der Ungleichen unter diesen Voraussetzungen noch drei Jahre halten? "Unbedingt", antwortet SPD-Co-Chefin Saskia Esken am Montag auf einer Pressekonferenz. Sie wirkt seltsam zufrieden. Zum Ampel-Bündnis hätten sich nun einmal unterschiedliche Parteien zusammengefunden. "Insofern war von Anfang an klar, dass diese Unterschiede fortbestehen und dass wir über diese Unterschiede auch regelmäßig reden müssen." Dass die Parteien ihre Meinungsverschiedenheiten zum Teil öffentlich austragen, findet Esken sogar teilweise sinnvoll. Das diene auch dazu, das eigene Profil aufrechtzuerhalten.
Politikwissenschaftler Uwe Jun: "Teile des Koalitionsvertrags sind Makulatur"
Auch Politikwissenschaftler Uwe Jun rechnet vorerst nicht mit einem Platzen der Ampel-Koalition. Eine Alternative wäre derzeit fast nur eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP. "Die würde bei den Grünen gar nicht gut ankommen – und von der FDP derzeit auch nicht unbedingt gewünscht", glaubt Jun. "Die FDP hat diesen Koalitionsvertrag geschlossen und Stabilität versprochen. Davon wird sie sich jetzt genauso wenig trennen wollen wie den alten Makel der Umfaller-Partei angeheftet zu bekommen."
"Die Haupt-Protagonisten dieser Koalition sind Olaf Scholz,
Inhaltlich sieht der Experte die Ampel-Parteien trotzdem vor großen Herausforderungen. Es genüge nicht, sich am Koalitionsvertrag festzuhalten. "Teile des Koalitionsvertrags – zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik – sind inzwischen schon wieder Makulatur." Die Öffentlichkeit erwarte von dieser Regierung, dass sie die Begriffe Zukunft- und Fortschrittskoalition "weiter ausbuchstabiert", sagt Jun. "Von der visionären Kraft, die die Parteien ja selbst versprochen haben, wollen ihre Wählerinnen und Wähler das eine oder andere noch sehen."
Verwendete Quellen:
- Pressekonferenz der SPD mit Saskia Esken
- Gespräch mit Prof. Dr. Uwe Jun, Universität Trier
- Bundesfinanzministerium.de: Statement von Christian Lindner zur Besteuerung von Übergewinnen
- SPD.de: Koalitionsvertrag 2021-2025
- Tagesspiegel.de: Unmut in der FDP über Christian Lindner: "Die Götterdämmerung hat längst begonnen"
- Tagesspiegel.de: SPD-Vorsitzende Saskia Esken im Interview: "Wir müssen über die Schuldenbremse sprechen"
- Twitter-Account von Konstantin von Notz
- WAZ.de: FDP-General: "Unseriös, jetzt Corona-Maßnahmen zu fordern"
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