Emmanuel Macron kommt am Sonntag nach Deutschland. Der erste offizielle Staatsbesuch eines französischen Präsidenten seit 23 Jahren fällt in eine unruhige Zeit: Die Beziehungen der beiden Regierungen gestalten sich schwierig.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es gab dieses Foto, aufgenommen im Mai 2022 vor dem Brandenburger Tor. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war zu Gast bei Bundeskanzler Scholz – als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine war Berlins Wahrzeichen in Blau und Gelb angestrahlt. Macron streckte die Hand aus und ergriff fest den Arm von Scholz. Der Kanzler aber hielt die Arme dicht am Körper.

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Wirklich überraschend war das nicht. Olaf Scholz ist nicht als großer Anfasser bekannt. Doch man könnte die Szene auch als Sinnbild der deutsch-französischen Beziehungen betrachten. Die Zeit der Umarmungen ist vorbei.

Erster Staatsbesuch seit 23 Jahren

Ab Sonntag kommt Macron erneut nach Deutschland. Das klingt fast alltäglich – ist es aber nicht. Es ist der erste offizielle Staatsbesuch eines französischen Präsidenten seit 23 Jahren. "Das zeigt, dass man in einer Phase der Zeitenwende alle Register zieht und dem bilateralen Verhältnis eine hohe Bedeutung zumisst", sagt Dr. Stefan Seidendorf, stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, im Gespräch mit unserer Redaktion.

In den vergangenen Monaten gab das deutsch-französische Duo nicht immer ein harmonisches Bild ab. Im August 2022 hielt Olaf Scholz in Prag eine viel beachtete Grundsatzrede. Der Bundeskanzler umriss darin seine Vorstellung von der künftigen Rolle Europas in der Welt – und erwähnte Frankreich kein einziges Mal.

Im Herbst lagen Deutschland und Frankreich bei so vielen Sachfragen über Kreuz, dass eine gemeinsame Sitzung der Regierungen verschoben wurde. Dass Deutschland eine europäische Luftverteidigung mit aktuell 14 weiteren Staaten aufbauen will, Frankreich über seine Pläne aber erst spät informierte, sorgte in Paris für Irritationen. Als wiederum der impulsive Macron nach einem Besuch in China sagte, Europa dürfe kein "Mitläufer" der USA werden, reagierte Berlin mit großem Unverständnis.

Die Opposition sieht die deutsch-französische Freundschaft sogar an einem Tiefpunkt angekommen. "An Gesten aus Frankreich, das zu ändern, fehlt es nicht. Aber bei der deutschen Bundesregierung vermisse ich hier auch eine gewisse Emotionalität. Das ist alles sehr technisch und trocken", sagt Gunther Krichbaum, europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, im Gespräch mit unserer Redaktion.

In wichtige Entscheidungen habe der Bundeskanzler Paris nicht eingebunden, kritisiert Krichbaum. "Eigentlich gehört es dazu, dass man sich mit den engsten Partnern abstimmt und auch mal zum Telefon greift.“

Armin Laschet: "Dynamik ist verloren gegangen"

Der deutsch-französische Motor lief auch in der Amtszeit von CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht immer rund. Der frühere CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Armin Laschet hält das Verhältnis zwischen Berlin und Paris trotzdem für verschlechtert, seit die Ampel-Koalition in Berlin regiert.

"Angela Merkel und Emmanuel Macron haben gemeinsam viel bewegt und mit dem Aachener Vertrag nach dem Élysée-Vertrag ein neues Kapitel der Beziehungen aufgeschlagen. Seit dem Regierungswechsel ist diese Dynamik leider verloren gegangen", erklärt Laschet, der auch im Vorstand der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung sitzt, auf Anfrage unserer Redaktion.

Ein Beispiel sei die Nationale Sicherheitsstrategie, die die deutsche Bundesregierung gerade erarbeitet hat. Die Bedeutung Frankreichs werde in der Strategie zwar hervorgehoben. "Aber es wäre wünschenswert gewesen, dass Deutschland Frankreich vorher konsultiert, wenn eine Sicherheitsstrategie erarbeitet wird", sagt Laschet. Umso mehr freue er sich über den anstehenden Staatsbesuch: "Endlich. Vielleicht kann dies ein Wendepunkt sein", sagt Laschet. "Auch heute muss die deutsch-französische Freundschaft nicht nur auf Regierungsebene, sondern vor allem in den Herzen der Menschen gefestigt werden."

"Ein Freund kennt dich – und liebt dich trotzdem"

Vor 60 Jahren haben die früheren Erbfeinde im Élysée-Vertrag den Grundstein für ihre Zusammenarbeit gelegt. Danach sind Deutschland und Frankreich ziemlich beste Freunde geworden. Die Aussöhnung hat der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg zurück in die Weltgemeinschaft geebnet. Und der deutsch-französische Motor trieb das immer engere Zusammenrücken in der Europäischen Union voran.

In dieser Zeit gab es immer schon Aufs und Abs. Darauf weist Brigitte Klinkert hin. Die Französin sitzt für die Macron-Partei "Renaissance" in der französischen Nationalversammlung und ist Co-Vorsitzende des Vorstands der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. "Es gibt ein Sprichwort: Ein Freund kennt dich – und liebt dich trotzdem", sagt Klinkert im Gespräch mit unserer Redaktion.

Im Wissen über die Stärken und Schwächen des anderen und im gegenseitigen Respekt habe man diese Freundschaft aufgebaut. "Das war in den vergangenen 60 Jahren nie einfach – trotzdem war und ist es eine dringende Pflicht, sie weiterzuentwickeln", sagt Klinkert.

Allerdings stehe Europa seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor der größten Prüfung seit langem. "Diese Krise macht gewisse Differenzen besonders sichtbar, die immer schon bestanden – vor allem in der Energie- und Verteidigungspolitik. Dass sie gerade verstärkt wahrgenommen werden, liegt auch daran, dass an das französisch-deutsche Duo von vielen Seiten so viele Forderungen herangetragen werden", erklärt Klinkert.

Regierungsparteien weisen Kritik zurück

Die FDP-Politikerin Nicole Westig ist Vorsitzende der deutsch-französischen Parlamentariergruppe. Aus ihrer Sicht hält die Ampel-Koalition an der engen Zusammenarbeit mit Frankreich fest. Ein Beispiel sei die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Kampfflugzeugs unter dem Titel "Future Combat Air System" (FCAS): "das teuerste europäische Rüstungsprojekt, das bislang existiert", sagt Westig unserer Redaktion.

Auch der Austausch zwischen den Abgeordneten sei weiterhin sehr intensiv: "Generell ist festzuhalten, dass nicht zuletzt durch die Feierlichkeiten zu 60 Jahren Élysée-Vertrag die deutsch-französische Zusammenarbeit aktuell eine große Dynamik entfaltet: Der deutsch-französische Motor läuft!"

Auch Anna Lührmann, Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Beauftragte für die deutsch-französische Zusammenarbeit, weist die Kritik aus der Union zurück. "Der Austausch zwischen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs ist über alle Ebenen hinweg beispiellos eng", teilt die Grünen-Politikerin auf Anfrage unserer Redaktion mit.

Paris und Berlin teilen Lührmann zufolge das Ziel, die Europäische Union "zu stärken und weiterzuentwickeln". Eine Gruppe aus Expertinnen und Experten, die sie zusammen mit ihrer französischen Kollegin Laurence Boone einberufen hat, soll dazu Vorschläge erarbeiten.

Beide Regierungen stehen unter innenpolitischem Druck

Abseits der Politik läuft der deutsch-französische Motor ohnehin: Der Austausch auf Ebene von Städten, Schulen oder Kultureinrichtungen ist so eng wie mit wohl keinem anderen Land. Auch als wichtigste Wirtschaftspartner sind beide Länder eng verflochten, sagt Experte Stefan Seidendorf. "Doch sie sind auch strukturell und politisch ganz unterschiedlich."

Hinzu komme, dass beide Regierungen derzeit innenpolitisch unter großem Druck stehen: "In Frankreich herrscht große Unruhe über Macrons Rentenreform, in Deutschland zeigt sich die Koalition von Scholz zerstritten. Deutsch-französische Kompromisse können innenpolitisch kostspielig sein. Sie sind für keinen von beiden Partnern ein Selbstläufer."

Viel Symbolik zu erwarten

Eine Lösung der aktuellen Streitfragen ist bei Macrons Besuch nicht zu erwarten. Dazu bietet die Veranstaltung nicht den passenden Rahmen: Macron und Scholz werden nur kurz aufeinandertreffen. Da es sich um einen offiziellen Staatsbesuch handelt, wird die Visite zusammen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zelebriert: Die Präsidenten und ihre Frauen werden durch Ludwigsburg, Berlin und Dresden touren und dabei mit vielen Menschen zusammenkommen.

Die Erwartungen an den Macron-Besuch sind hoch: "Solche Besuche sind eine gute Gelegenheit, die enge Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern zu feiern und sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannter zu machen. Aber auch, um kontroverse Themen anzusprechen und an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten", sagt Staatsministerin Lührmann.

Für die Symbolik dieser alten politischen Freundschaft könnte die Veranstaltung also gut sein. Und vielleicht gibt es dieses Mal auch die eine oder andere Umarmung.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Brigitte Klinkert, Gunther Krichbaum und Dr. Stefan Seidendorf
  • Stellungnahmen von Anna Lührmann, Armin Laschet und Nicole Westig
  • Bundesregierung.de: Europa-Rede des Bundeskanzlers "Europa ist unsere Zukunft – und diese Zukunft liegt in unseren Händen"
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