Nach dem Giftanschlag auf Alexander Nawalny sahen Politiker von AfD und Linke Russland als Opfer. Es war nicht das erste Mal, dass die Parteien den Kreml verteidigten. Was steckt hinter der Hinwendung zu Moskau?

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Als die Geheimdienste noch rätselten, wie der Kampfstoff Nowitschok in den Körper des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny gekommen sein könnte, gab Gregor Gysi bereits den Agenten Leo Listig: "Es kann sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war", lautete der Befund des Linken-Politikers. "Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen."

Im politischen Berlin verfehlte diese Behauptung ihre Aussage nicht. Außenminister Heiko Maas wetterte, Gysis Behauptung sei an "Absurdität nicht zu übertreffen" und auch Teile seiner eigenen Partei widersprachen ihm öffentlich. Andere hingegen nutzten die Aussage als Startrampe für wilde Theorien, wie der ehemalige Parteichef Klaus Ernst. "Wer hat Interesse, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland, der EU und Russland zu stören?", fragte er ketzerisch – und man glaubte, die Antwort bereits zu kennen.

Die Fast-Ermordung eines Kreml-Kritikers – ein Komplott dunkler Mächte? Ein Geheimdienstthriller zwischen Washington, Berlin und Moskau, in dem Donald Trump der lachende Sieger und Wladimir Putin das nichtwissende Opfer ist?

Linke ist über Russland gespalten

Ein Jahr vor der Bundestagswahl, so viel ist nach diesen Wochen klar, tobt in der Partei mal wieder ein alter Grundsatzkonflikt. Auf der einen Seite stehen die Reformer, die im kommenden Herbst als Teil einer rot-rot-grünen Koalition auf der Regierungsbank Platz nehmen wollen. Und auf der anderen Seite die Fundamentaloppositionellen, die mit ihrer unbeirrbaren Hinwendung zu Moskau sämtliche dafür infrage kommenden Parteien auf Abstand halten. Es ist ein Konflikt, der nicht neu ist, der aber angesichts der enger werdenden Eskalationsspirale zwischen Moskau und Berlin besondere Dringlichkeit erfährt. "Die Auseinandersetzung ist für den pragmatischen Teil der Linken gefährlich, weil jede Regierungsbeteiligung durch den internen Zwist torpediert werden könnte", fasst es Frank Decker, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, zusammen. Wieso ist die Versuchung, sich Russland anzubiedern, trotzdem so groß?

Fragt man bei Forsa, dem großen Meinungsforschungsinstitut nach, dann erhält man eine Antwort, die zumindest die taktischen Motive erklärt. Wladimir Putin, der russische Präsident, entfacht unter den Linken-Anhängern eine Begeisterung, wie sonst bei keiner anderen Partei. 31 Prozent, so lautet der Befund, vertrauen dem russischen Präsidenten mehr als der eigenen Kanzlerin. Ein Spitzenwert über alle Parteien hinweg.

Doch die Zahlen sind nur ein Symptom, sie erklären die Gründe nicht. Mit welcher Verve die Linke ihre Russland-Nähe zelebriert, lediglich als strategisches Interesse abzutun, würde ihr nicht gerecht. "Die zugewandte Haltung zu Russland dürfte weniger mit dem Charakter des dortigen Regimes zu erklären sein, das ja eher Züge einer 'rechten' Diktatur trägt, als mit der zu sowjetischen Zeiten entstandenen sogenannten Völkerfreundschaft", erklärt Politologe Decker. Die Gründe dafür liegen lange zurück. Fast 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gibt es besonders unter älteren Linken-Anhängern eine nie erloschene Sehnsucht nach einem demokratischen Sozialismus, wie ihn der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands Boris Jelzin einst prägte. Auch wenn Russland längst vom Kapitalismus erfasst wurde, ist das Land für diese Anhänger noch immer ein Bruder im Geiste.

Russland als Opfer einer westlichen Politik

Doch die Anhängerschaft, die diese Idee teilt, stirbt aus. Besonders in den Köpfen junger Linken-Anhänger taugt die DDR nicht mehr als Motiv dafür, die Hinwendung zu Russland zu erklären. Es gibt deshalb ein zweites Argument, das Matthias Mader, Politologe an der Universität Mannheim, so zusammenfasst: "Russland als Opfer einer aggressiven westlichen Politik zu verstehen, ist schon immer eine Kernposition der Linken gewesen. Insofern kann dieses Narrativ in der Stammwählerschaft auf fruchtbaren Boden fallen."

Tatsächlich machen viele Linke für alles Schlimme, das auf der Welt passiert, die USA verantwortlich. Vor allem die langjährige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, die in Vorträgen wie Büchern gerne das Mantra der "aggressivsten Militärmacht der Welt" vortrug, schmähte die Amerikaner nicht nur für das Erstarken des IS, sondern dank Unternehmen wie Amazon auch für Dumpinglöhne und das Aufweichen von Umweltstandards. Die Hinwendung zu Russland speist sich für dieses Lager weniger aus einer Sympathie für Wladimir Putin selbst, sondern vielmehr aus einer klassischen Freund-Feind-Logik: Wer – wie Russland - den USA wirtschaftlich wie militärisch Einhalt gebiete, der könne so schlecht nicht sein. Folgerichtig lehnt die Partei auch das Verteidigungsbündnis Nato ab und will es durch ein Friedensabkommen unter Mitwirkung Russlands ersetzen.

Ihre Affinität zum Kreml hatte die Linkspartei im Deutschen Bundestag lange Zeit exklusiv. Kaum ein Politiker einer anderen Partei traute sich, Russland in öffentlichen Debatten zu verteidigen und damit das Risiko einzugehen, als "Putin-Versteher" zu gelten. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag änderte sich das. Abgeordnete der Rechtspopulisten geben dem russischen Propagandasender "RT" fleißig Interviews, eine Reisegruppe besuchte die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim, einer ließ sich den Trip sogar aus der russischen Staatskasse sponsern. Kritische Worte, wie etwa nach dem Anschlag auf Nawalny, finden sich hingegen selten. "Dass Nawalny genau jetzt mit diesem Gift vergiftet wurde, kann eine Lösung im amerikanischen Sinne sein", sagte etwa Hansjörg Müller, der außenwirtschaftspolitische Sprecher der AfD im Bundestag. Das klang ähnlich wie bei Gysi.

Strategisches Kalkül

Fragt man Politologe Decker, dann steckt dahinter vor allem strategisches Kalkül. "In der AfD gibt es eine ideologische Affinität zum illiberalen, autoritären Putin-Regime, mit der man vor allem in Ostdeutschland Wähler ansprechen kann", sagt der Forscher. Eine Absage an den Islam, die Unterdrückung von Homosexuellen, ein starker Führer – das sind allesamt Werte, mit denen sich viele Rechtspopulisten anfreunden können. Putin verkörpert für sie geradezu das personifizierte Gegenmodell zu dem aus ihrer Sicht liberal verkommenen Westen.

Doch es gibt auch eine andere Erklärung, die der Ehrenvorsitzende der AfD gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" so zusammenfasste: "Es ist Deutschland in der Geschichte immer gut bekommen, wenn es eine gute Partnerschaft zu Russland hatte und sich nicht in russische Angelegenheiten einmischte. Von daher bin ich immer aus geostrategischen und diplomatischen Erwägungen für ein gutes Verhältnis zu Russland gewesen." Dahinter steckt ein ähnliches Kalkül wie bei den Linken: Beide wollen die Westbindung der Bundesrepublik angreifen. Die AfD will den Einfluss der Amerikaner auf die Nato verringern, die Linke sie gleich ganz abschaffen. Beide wollen ein Sicherheitsbündnis mit Russland.

Gerne betonen Linke und AfD, wie wenig sie voneinander halten. Die AfD mobilisiert gerne gegen Flüchtlinge, die Linkspartei ist gegen Rassismus. Die Sympathie für Russland wirft deshalb manchmal so seltsame Blüten, dass man sich auf dem Ticket Russlands über den Weg läuft - wie zum Beispiel im Jahr 2018. Damals lud das russische Präsidialamt zum Yalta International Economic Forum ein, einer der vier größten Wirtschaftskonferenzen im Land. Mit gezielter Lobbyarbeit versuchte die russische Regierung dort, die Sanktionen der EU zu umgehen und setzte auch auf westliche Politiker. In Deutschland nahmen aber lediglich Amtsträger zweier Parteien die Einladung an: AfD und Linke.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Frank Decker, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums.
  • Interview mit Dr. Matthias Mader, Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim
  • ISPSW Strategy Series: Wie Russland und die AfD Einfluss nehmen
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Russland-Versteher
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