• Beim Länderrat haben Annalena Baerbock und Robert Habeck die Grünen auf Sondierungen und Koalitionsverhandlungen eingestimmt.
  • Die härtesten Diskussionen werden der Partei wohl erst bevorstehen, wenn es einen Koalitionsvertrag gibt.
  • Die Delegierten des kleinen Parteitags machen deutlich: Die Basis erwartet einen Vertrag, der nicht nur aus ambitioniertem Klimaschutz besteht.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Große Worte fallen am Samstag beim Länderrat der Grünen. Annalena Baerbock spricht von einem "historischen Schritt", von einem "großen Aufbruch". Die Grünen werden höchstwahrscheinlich demnächst im Bund mitregieren. Und sie haben sich hohe Ziele gesetzt: "Wir werden eine Regierung bauen, die danach das Land zu einem anderen gemacht haben wird", sagt Robert Habeck.

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Der Länderrat ist der kleine Parteitag der Grünen. Rund 100 Delegierte sind am Samstag in eine Kongresshalle am Berliner Westhafen gekommen. Sie sollen das Bundestagswahlergebnis aufarbeiten und die Weichen für die Regierungsbildung stellen. Doch vor allem dient dieser Tag der Selbstvergewisserung. Die Partei ist sichtlich begeistert davon, nach 16 Jahren Opposition bald wieder an den Schaltstellen der Macht zu sitzen.

Michael Kellner: "Es war mehr drin"

Dabei lief in den vergangenen Tagen nicht alles ganz geräuschlos bei den Grünen. Es gibt durchaus ein paar Fragen zu klären. Zum Beispiel die Einschätzung des Wahlergebnisses: 14,8 Prozent hat die Partei bei der Bundestagswahl eingefahren. Ein Erfolg oder eine Niederlage? Das ist eine Frage der Perspektive.

Von unten betrachtet: Im Vergleich zu 2017 haben die Grünen deutlich hinzugewonnen, haben sogar 16 Direktmandate zwischen Flensburg und Freiburg erobert. Es ist das beste Bundestagswahlergebnis der Parteigeschichte.

Von oben betrachtet: Direkt nach der Nominierung von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock lag die Partei in Umfragen bei mehr als 25 Prozent. Im Vergleich dazu ist das Ergebnis vom Sonntag eine klare Niederlage. Vom Kanzleramt konnte die Partei nur träumen. "Es war mehr drin", sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner beim Länderrat zur Begrüßung.

Diskussion über Vizekanzler bleibt aus

Das Wahlergebnis hat zudem Personaldiskussionen genährt, die die Grünen vorher erfolgreich verhindert hatten. Annalena Baerbock und Robert Habeck haben bereits untereinander ausgemacht, wer von ihnen den Vizekanzler-Posten übernimmt.

Nach Medienberichten soll es Habeck sein, offiziell bestätigt ist das aber nicht. Die Absprache hat aber schon für Ärger gesorgt: Partei-Urgestein und Ex-Umweltminister Jürgen Trittin schimpfte, solche Entscheidungen würden immer noch von den Parteigremien und nicht von den beiden Vorsitzenden alleine getroffen.

Nach den Misstönen dieser Woche ist die Partei sichtlich bemüht, schnell zur Geschlossenheit zurückzukehren. Die Worte Vizekanzler oder Vizekanzlerin fallen in der Aussprache kein einziges Mal. Wer will, kann aus Habecks Rede durchaus den höchsten Anspruch herauslesen. Er klingt staatstragender als Baerbock, schwört die Partei auf große Herausforderungen ein. Ab jetzt sei jede Krise eine Angelegenheit der Grünen. "Das wird anstrengend sein, das wird uns fordern, das wird uns formen."

Baerbock dürfte auf diesem kleinen Parteitag aber ebenfalls viel Rückenwind verspüren. Ihre eigenen Fehler im Wahlkampf sind kein Thema. Der Länderrat feiert die Kanzlerkandidatin stattdessen mit Applaus im Stehen und Jubel-Rufen. Fast alle Rednerinnen und Redner äußern sich begeistert von ihrer Spitzenfrau: Sie habe Standfestigkeit und Durchhaltevermögen bewiesen.

Claudia Roth: "Diversität ist grüne Programmatik"

Die Grünen bestätigen beim Länderrat auch das Team, das in den kommenden Tagen und Wochen mit SPD, FDP und Union eine Regierungsbildung sondieren soll. Die Zusammensetzung hat der Partei in dieser Woche schon Kritik der Medien eingebracht: In der zehnköpfigen Gruppe sei niemand mit Einwanderungsgeschichte, kritisierte zunächst die "Bild". In seltener Eintracht schrieb auch die "taz", das Sondierungsteam sei so "divers wie Weißwurst".

Die Delegierten bringen nun ein "erweitertes" Team auf den Weg. Zu diesen 14 zusätzlichen Personen gehören mit Cem Özdemir und Agnieszka Brugger nun auch Grüne mit ausländischen Wurzeln.

In der Partei reagiert man erstaunt bis genervt auf die Kritik. "Wir werden das Thema Diversität in den Sondierungen setzen. Es ist zentraler Teil grüner Programmatik", sagt Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wir haben als erste Partei in Deutschland ein Vielfaltsstatut, das wir jetzt umsetzen werden, um zukünftig die ganze Diversität der Gesellschaft auch in unserer Partei abzubilden."

Vereinzelt wird jedoch auch Kritik am Sondierungsteam laut. "Nicht gelungen" findet die Münchner Delegierte Vaniessa Rashid dessen Zusammensetzung. "Das kriegen wir besser hin." Mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu gewinnen, sei immer noch eine große Baustelle für die Grünen, sagt Rashid im Gespräch mit unserer Redaktion. "Ja, wir haben das Vielfaltsstatut. Aber Papier ist geduldig. Da ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Das muss mit Leben gefüllt werden."

Frank Bsirske fordert mehr soziale Gerechtigkeit

Den Leitantrag der Parteiführung nicken die Delegierten bei nur einer Enthaltung ab. Ist die große Harmonie also intakt? Das bleibt abzuwarten. Die schwierigen Debatten dürften erst losgehen, wenn konkrete Ergebnisse aus den Koalitionsverhandlungen auf dem Tisch liegen.

Im Wahlkampf haben sich die Grünen stark auf das Thema Klimaschutz konzentriert. Doch ein ambitioniertes Klimaschutzprogramm wird nicht reichen, um die eigenen Mitglieder vom Regieren zu überzeugen. Der Jung-Grüne Timon Dzienus aus Niedersachsen fordert zum Beispiel ein "massives Aufnahmeprogramm des Bundes" für Geflüchtete, die an der Mittelmeerküste ankommen. "Es braucht eine vollkommen andere Geflüchtetenpolitik."

"Wir werden immer noch als Stadtpartei der Reichen angesehen", sagt wiederum Katharina Schmidt aus Thüringen. "Nehmt uns im ländlichen Raum in den Koalitionsverhandlungen bitte ernst!" Christian Meyer, früherer Landwirtschaftsminister in Niedersachsen, pflichtet ihr bei. Klimaschutz sei wichtig. "Aber wir dürfen nicht nur auf ein Thema schielen." Die soziale Gerechtigkeit etwa dürfe die Partei nicht der SPD überlassen.

In die gleiche Kerbe schlägt Frank Bsirske. Der frühere ver.di-Vorsitzende ist nach einer langen Gewerkschaftskarriere gerade mit 69 in den Bundestag eingezogen. "Wir wollen den ökologischen Umbau verbinden mit einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit", ruft er unter dem Applaus der Delegierten.

Bsirske will die Tarifbindung stärken, die Erbschaftssteuer erhöhen, "Verteilungsgerechtigkeit" ist sein Zauberwort. Mit der FDP dürften schwierige Verhandlungen anstehen.

Urabstimmung über Koalitionsvertrag geplant

Angesichts des "großen Aufbruchs", den viele beschwören, ist dieser Länderrat ein ziemlich kurzer Prozess. Nach zwei Stunden – und damit zwei Stunden früher als geplant – ist der kleine Parteitag auch schon wieder vorbei. Allerdings ist er auch nur ein Auftakt.

Wenn die Grünen nach den Sondierungen über eine Ampel-Koalition mit SPD und FDP verhandeln wollen, muss ein kleiner Parteitag über diesen Schritt abstimmen. Falls es doch noch eine Jamaika-Koalition mit CDU/CSU und FDP werden soll, gäbe es offenbar größeren Klärungsbedarf: Dann müsste ein großer Parteitag her.

Wenn ein Koalitionsvertrag wirklich steht, hat noch einmal die Basis das letzte Wort: Dann müssen die Mitglieder in einer Urabstimmung über den Vertrag entscheiden. Auch das dürfte spannend werden: Die Mitgliederzahl ist seit 2017 von rund 65.000 auf 100.000 Menschen gestiegen. Vor allem junge Grüne erwarten weitreichende Veränderungen und dürften unbequeme Kompromisse nicht vorbehaltlos mittragen. Die wahre Probe der Geschlossenheit hat für die Partei gerade erst begonnen.

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Eine Civey-Umfrage für den "Spiegel" zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen lieber Robert Habeck als Vizekanzler hätten, als Annalena Baerbock. Das gilt sowohl für eine Koalition der Grünen mit der FDP und der SPD, aber auch im Faller einer Koalition mit der Union und der FDP. Copyright Vorschaubild:picture alliance / photothek / Florian Gaertner
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