Es fühlt sich viel kürzer an. Eher wie drei als fünf Jahre. Aber es war im Herbst 2019, als auf meinem Screen dieses Foto auftauchte.

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Ein vollbärtiger Mann in einem hellblauen Popelinehemd, der mit der Kamera flirtete – und mit der neben ihm sitzenden Frau, die lachend an seinen Holzfällerunterarm fasste. Beide gebräunt, aufgenommen von Hermann Bredehorst für den Spiegel.Aha, das also waren Holger und Silke Friedrich, die gerade den Berliner Verlag gekauft hatten. Wow und Bäääm. Ich las den Porträttext von Alexander Osang (Titel: "Wir können höchstens ein bisschen Zeit und Geld verlieren"), dann schrieb ich eine Mail an Frau Friedrich, die mir als Direktorin der privaten Berlin Metropolitan School in Mitte aus Erzählungen von Freundinnen bekannt war. Keine zehn Minuten später klingelte mein Telefon. Und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Ab November 2019 war ich beim Berliner Verlag für Style & Magazine zuständig, damals noch in der Alten Jakobstraße. Gab dem offiziellen Magazin des 1. FC Union Berlin den neuen Namen EISERN und mit dem Artdirector Mike Meiré einen neuen Look (die Jubelausgabe 10 erscheint am Dienstag, 17. September). Wir launchten das Berliner Geschichtsmagazin B HISTORY und reformierten mit dem existierenden Mini-Team die Wochenendbeilage "Magazin" der Berliner Zeitung, aus der im April 2021 die Berliner Zeitung am Wochenende hervorging. Denn das war die Grundidee der weiblichen Projekttruppe, die Silke Friedrich um sich geschart hatte: Das Berliner Wochenende braucht etwas so Gekonntes, Genusskluges und Attraktives wie ein Hochglanzmagazin – aber eben auf Zeitungspapier.

Wieder zu Hause: Seit 2023 residiert der Berliner Verlag an seinem ursprünglichen Sitz am Alex.
Wieder zu Hause: Seit 2023 residiert der Berliner Verlag an seinem ursprünglichen Sitz am Alex. © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Und dann kam es dicke, vor der eigenen Haustür und draußen in der Welt. Im Januar 2020 verschwand die bundesdeutsche Selbstgewissheit im Covid-19-Pandemienebel, und mit ihr jedes Wirtschaftswachstum. Dann, am 24. Februar 2022, schauten junge russische Soldaten, die seltsam zögerlich wirkten, von ihren Hightech-Panzern herunter in die ukrainische Landschaft und in die Kameras der Weltpresse. Ich weiß es, denn wir hatten sie sofort auf dem Cover der Wochenendausgabe. Putins Angriff auf die Ukraine, das war der zweite Schuss mitten rein ins kollektive deutsche Herz der Finsternis – the German Angst war zurück. Schließlich kam am 7. Oktober 2023 das Massaker der Hamas in Israel. Als fortschrittsgewisse Bürger des 21. Jahrhunderts ins Bett gegangen, waren wir mit einem blutigen Neo-Mittelalter aufgewacht, das bloß 3000 Kilometer Luftlinie entfernt lag.

Die Redaktionen und das Entwicklerteam des Berliner Verlags fanden währenddessen zueinander, Schritt für Schritt, Artikel für Artikel, Backend-Anwendung für Backend-Anwendung. Die Mission hätte nicht klarer sein können, das stellten Holger und Silke Friedrich bereits in ihrem Coming-out-Interview als Verleger in der Berliner Zeitung vom 2./3. November 2019 klar. Ihnen gehe es darum, "der Heterogenität Raum zu geben". Es sei nicht schwer, innerhalb von Wochen eine neue digitale Plattform für die Berliner Zeitung aufzustellen. Aber: "Schwer ist es, die dahinter liegenden Systeme zu integrieren" und "Man muss bereits sein, organisatorische Orthodoxien aufzubrechen". Und Silke Friedrich setze hinzu: "Veränderungen benötigen ein gewisses Druckmoment." Genau so kam es dann auch. Die Teams veränderten sich zeitweise im Wochenrhythmus, nach und nach liefen Digital und Print immer mehr zusammen. Quasi in Echtzeit wurden und werden Arbeitssysteme angepasst, moduliert und stetig verbessert. Die nach außen gerichteten wie die, mit denen die Redaktion arbeitet.

Mitarbeiter des Digital-Product-Teams des Berliner Verlags anlässlich des Starts der ...
Mitarbeiter des Digital-Product-Teams des Berliner Verlags anlässlich des Starts der Transformation im Herbst 2019: Inna Frank, Erons Festus-Ikhuoria und Rosa Abdulla (v.l.) © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Heute ist die Belegschaft im Schnitt elf Jahre jünger als im Herbst 2019, sie kommt aus mehr als 20 Nationen – mit einem leichten Überhang weiblicher Mitarbeiter. Man begrüßte die einen und nahm Abschied von anderen, organisierte sich jeden Tag neu im offenen Großraumbüro, kämpfte mal gegen und mal für die "Clean Desk Policy". Traf sich bei der Morgenkonferenz und in vielen kleineren Meetings, mal online, aber immer öfter auch in Person. Und Holger und Silke Friedrich blieben mittendrin.

Ab Frühjahr 2023 saßen wir dann mit Blick aus der 13. (!) Etage des denkmalgeschützten Hauses des Berliner Verlags an der Karl-Liebknecht-Straße. Der Berliner Verlag soll zurück zu seinen Wurzeln beim Alexanderplatz finden, das war der Plan der Friedrichs von 2019 an gewesen. Ein weißes Hochhaus der sozialistischen Moderne von 1973, zwei Großraumbürofluchten mit angeschlossenen Kleinräumen, verbunden durch einen zentralen Funktionskern mit sechs Aufzügen, zwei Küchen und WCs.

Out of the box: Verlegerin Silke Friedrich 2019 in den früheren Büroräumen in Kreuzberg
Out of the box: Verlegerin Silke Friedrich 2019 in den früheren Büroräumen in Kreuzberg © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

In der Empfangslounge hatte der Vormieter auf dem Höhepunkt des Start-up-Style eine grasgrün ausgepolsterte Lümmelkiste und ein Mini-Hexenhaus zum In-sich-Gehen eingebaut. Dabei hatte die Etage längst ihr unüberbietbares Highlight: Panorama von Gesamtberlin, Ost und West, durch die Fensterbänder, die beide Flanken des Hochhauses entlanglaufen. Man gewöhnt sich daran und auch wieder nicht.

"Wir, der Berliner Verlag, sind zur Perle geworden", schrieb Holger Friedrich am 10. September 2024 in einer Mail an die gesamte Mannschaft des Berliner Verlags. Dazu eine Grafik, die zeigt: Die Berliner Zeitung hat den Turnaround geschafft. Der zeigt sich in Form eines "Hockeyschlägers" in der Statistik, so genannt wegen des steilen Hakens nach oben in der Kurve. Bereits 2023 sei es gelungen, laufend mehr Abonnenten zu gewinnen als zu verlieren. Und jetzt zeigen die digitalen Zahlen, dass solide Profitabilität erreicht ist.

Nicht etwa durch Outsourcing-Tricks oder Werbung, sondern durch Zugewinn an Leserinnen und Lesern. Ich zitiere auszugsweise aus der internen Mail: "2024 wird der Verlag aus gewöhnlicher Geschäftstätigkeit strukturelle Profitabilität erzielen und den Kundenbestand weiter ausbauen, etwa für die Printausgabe der Berliner Zeitung am Wochenende (+10% Verkauf gegenüber dem Vorjahr) und das digitale Angebot "B+" (+35% Abonnenten gegenüber dem Vorjahr). Die daraus resultierende finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht es, das Geschäft ausschließlich durch die wachsende Kundenzahl zu tragen."

Think, listen, think: Holger Friedrich
Think, listen, think: Holger Friedrich © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Was war geschehen? Wie war das gelungen? Wie hatten wir die letzten fünf Jahre überstanden – und was hatte das mit Silke und Holger Friedrich zu tun?

Vielen hier in der Redaktion kam es lange so vor, als könnte es die Berliner Zeitung niemandem in der deutschen Medienbranche recht machen. Und ihr Verleger schon gar nicht. Ein Blick auf Holger Friedrichs beruflichen Werdegang hilft da weiter: Studium der Informatik und der Germanistik (eines seiner Kernthemen: Hölderlin), Werkstudent bei Siemens, Senior VP bei SAP, Partner bei McKinsey, unabhängiger Investor und Unternehmer. Sagen wir es mal so: Der Mann weiß, was er tut, wenn er seinen Laptop aufklappt und in die Tasten haut. Oder wenn er sein Geld irgendwo auf der Welt arbeiten lässt.

Publish or perish: Managing Director Jan Schmidt (re.) überprüft ein Software-Update.  
Publish or perish: Managing Director Jan Schmidt (re.) überprüft ein Software-Update.   © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Eine solche Berliner Unternehmerversion konnte nicht gut ankommen in der übermännlichen, in Sachen Gleichberechtigung viel zu trägen Welt des bundesdeutschen Zeitungsjournalismus, die selbst heute noch von Übervater-Gespenstern wie Axel Springer geplagt wird. Die Friedrichs hatten offenbar massiv den bis dahin gültigen Konsens gebrochen. Sie waren in Ostdeutschland geboren. Sie wollten ein Berliner Medium verlegen, das sie selbst gern lesen würden.

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Dazu kamen zwei urdeutsche Mantras, die die Friedrichs beiseite geschoben hatten, einfach so. Zum einen: "Schuster, bleib bei deinem Leisten". Seit Jahren wird Holger Friedrich in Presseberichten gern "branchenfremd" genannt, und natürlich ist das diskreditierend gemeint. Aber nur der Schuster, der eben nicht bei seinem Leisten bleibt, hat eine Chance in der superdynamischen globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Und zweitens: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Diese nach wie vor gern zitierte Aussage des Altkanzlers und Zeit-Herausgebers Helmut Schmidt war sehr hanseatisch, aber eben auch sehr hochmütig. Und inzwischen völlig aus der Zeit gefallen.

Das Wappen aus dem Schriftzug der Berliner Zeitung am Alex bezieht 2019 sein neues Quartier. Was ...
Das Wappen aus dem Schriftzug der Berliner Zeitung am Alex bezieht 2019 sein neues Quartier. Was ist dagegen schon das olle Waschbecken, mit dem Elon Musk am ersten Tag bei Twitter aufkreuzte? © Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Eine Gemeinschaft zivilisierter Menschen, die etwas erreichen will, braucht in Zeiten wie diesen beides: Vision und Realismus. Was die Friedrichs beim Berliner Verlag eingeführt hatten, war persönliche Verantwortlichkeit. Man merkte es nicht jeden Tag, aber dann eben doch. Alles, was du tust, zählt. Jede Mail, jede Teams-Message und jede Textänderung, ob online oder im Printsystem. Klar, das war und bleibt fürchterlich anstrengend. Aber es ist der einzige Weg in eine Welt, in der es fairer zugehen soll als heute, für alle. Persönliche Verantwortung fürs eigene Tun – oder eben Nichttun.

Denn natürlich ist Nichthandeln auch ein Handeln. 0 oder 1, nach diesem Muster läuft die digitale Welt. Holger und Silke Friedrich kommen aus ihr, handeln nach ihren Regeln.

Ich danke allen, die den wilden Ritt der letzten fünf Jahre mitgemacht haben, aus ganzem Herzen. Für die Zeitungsbranche war und bleibe ich wohl eine Bewohnerin des Stil-Elfenbeinturms, doch beim Berliner Verlag hat mein Turm richtig große Fenster ins Leben gekriegt.  © Berliner Zeitung

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