Preisgekröntes Theater: Sie waren die erste weibliche Doppelspitze eines Theaters und denken nach vorn: Eva Lange und Carola Unser-Leichtweiß über den Theaterpreis des Bundes, eine neue Probebühne und dicke Jacken für die Techniker.
Das Publikum ist gefragt. Es spricht. Es kriecht einmal sogar unter den großen Tisch, um den herum es sitzt. Und isst Kuchen. Eine Geste der Gemeinschaft und Menschlichkeit. "Ändern leben. Malala Yousafzai und Sophie Scholl" heißt der mit vielen Leerstellen versehene, poetisch rhythmisierte Text, den Anah Filou geschrieben hat und der nun als Uraufführungsinszenierung im Stammhaus, dem "Theater am Schwanhof", kurz Tasch, zu sehen ist und in vielen hessischen Klassenzimmern oder Bürgerhäusern. Vermutlich wird in den nächsten Spielzeiten viel Zitronenkuchen in Hessen vertilgt werden. Denn ein Landestheater wie das Marburger ist zum Reisen verpflichtet, gerade die Stücke für junges Publikum bieten sich dafür an. 80 bis 100 Gastspiele in der Saison muss das Haus seinen Geldgebern, der Stadt und dem Land Hessen, nachweisen.
Theater in Marburg ist anders, seit mit der Spielzeit 2018/19 Eva Lange und Carola Unser-Leichtweiß dort angefangen haben. Eitelkeitsfrei, sehr zugewandt und bemüht, alle vor, auf, hinter der Bühne mitzunehmen. Das hat jetzt auch die Jury anerkannt, die dem Haus den Theaterpreis des Bundes zugesprochen hat. Doppelspitze, moderne Arbeitsstrukturen, viele auch internationale Kooperationen, ein Schwerpunkt auf Uraufführungen wie jetzt von Anah Filou oder zu Saisonbeginn von Julienne de Muirier "Johann*a – stell dir vor, es ist Krieg und (k)eine*r geht hin", viel Nachwuchsförderung, ein internationales Studiojahr etwa für Schauspielstudenten sind seit dem Antritt der damals ersten weiblichen Doppelspitze überhaupt an einem öffentlich geförderten Theater Markenzeichen dieses "Marburger Modells".
Selbstredend gibt es zu jeder Inszenierung eine Materialmappe – und eine höchst unkonventionelle Kurzempfehlung. Zu "Ändern leben" etwa lautet sie: "Ein Klassenzimmerstück für alle ab 7 Jahren, die eine gute Geschichte brauchen, die ihnen Mut macht, und die Lust haben, die Dinge nicht so hinzunehmen, wie sie sind."
Das ganze Haus soll profitieren
Die Preisverleihung Anfang Oktober in Berlin mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) sei sehr "wertschätzend" gewesen, sagt Unser-Leichtweiß. Um den Preis mussten Theater sich aktiv bewerben. Er hat dem Marburger Haus, das seit 2023 mit einem Etat von 5,6 Millionen Euro wirtschaftet und knapp 10 Prozent davon selbst erwirtschaften muss, 100.000 Euro Preisgeld gebracht.
Viel angesichts der kargen Mittel, wenig für das, was Lange und Unser-Leichtweiß vorhaben. Das spiegelt sich auch in dem Konzept wider, wie sie das Preisgeld verwenden wollen, auch das ist in Berlin gelobt worden. "Das ganze Haus hat diesen Preis bekommen, und wir wollen, dass das ganze Haus davon profitiert", sagt Unser-Leichtweiß.
Dem vorausgegangen ist zumindest die Aussicht, binnen eines Jahres eine "ordentliche Probebühne" zu bekommen. Bislang seien die Proberäume kalt, zugig, schlecht ausgestattet. Im siebten Jahr, sagen die Intendantinnen, kämpften sie für bessere Bedingungen für ihre Mitarbeiter. Das Wort "kämpfen" fällt oft im Gespräch. Bitter klingt es nicht, aber realistisch.
"Wir machen von einer Produktion eines großen Hauses drei oder vier Produktionen", sagt Eva Lange. Heraus komme dafür sehr viel. Das Konzept der bestens vernetzten Doppelspitze, die bis 2028 verlängert hat, ist in der Szene hoch anerkannt, viele progressive Künstlerinnen und Künstler kommen, doch die Gagen und die eher geringe mediale Resonanz eines Theaters, das nicht in einer Metropole liegt, sind auch Handicaps.
Ein "care-zentriertes" Theater
Zudem muss das Theater in der Stadt, im Piscator-Haus und im Tasch, Neues bieten, weil das Publikum bei 80.000 Einwohnern nicht sehr groß ist. Zugleich aber muss es in die Fläche arbeiten und viel Repertoire vorhalten, erst recht, weil seit Corona regionale Veranstalter lieber Bewährtes buchen. Eine Lösung: Die Marburger touren jetzt mit ihrem vorigen Weihnachtsstück über Land, während in Marburg selbst ein neues, "Der Lebkuchenmann" in Unser-Leichtweiß’ Inszenierung, Premiere hat. Die Doppelstrategie wiederum führt zu logistischen Herausforderungen – und der Raum ist knapp.
Die Bereitstellung geeigneter Räume ist Sache der Stadt. Doch für die nötige Grundausstattung "für unsere hoffentlich künftige Probebühne", so Unser-Leichtweiß, sehe es mau aus. Das Preisgeld also kam wie gerufen: Es soll Technik beschafft werden, "ordentliches Werkzeug und ordentliche Jacken für die Techniker". Das zweite Preisprojekt wird ausbauen, was höchst erfolgreich mit Produktionen wie der von Nino Haratischwili geschriebenen und inszenierten Fassung von "Warum das Kind in der Polenta kocht" läuft: Eine Kooperation mit der Theaterszene in Georgien, angesichts der aktuellen Verwerfungen nach der Wahl ein ambitioniertes Projekt.
Vor allem die Klassenzimmerstücke der Marburger interessierten die freischaffenden georgischen Kollegen, sagen Lange und Unser-Leichtweiß, mit einer freien Gruppe in Tiflis soll ein Stück übersetzt und erarbeitet werden. Die Kosten für die Kooperation seien bescheiden, was noch Preisgeld für Projekt Nummer drei übrig lässt: "Wir wollen uns noch einmal Gedanken darüber machen, was ein care-zentriertes Theater sein könnte", sagt Unser-Leichtweiß, "wie wir die Arbeit so gestalten könnten, dass wir Menschen, die pflegen oder erziehen, ermöglichen, trotzdem einen guten Arbeitsplatz zu haben.
Das wollen wir als längeren Prozess mit einem Teil des Geldes starten." Der Prozess sei für die Belegschaft und das Publikum zugleich gedacht: "Müsste man nicht Vormittagsvorstellungen mit Kinderbetreuung anbieten, damit Alleinerziehende auch kommen können?", sei eine Frage. Denn so schwierig manches auch sein mag: Das Spielzeitmotto "Widerstand und Liebe" gilt für die Arbeit der beiden Intendantinnen allemal. In einer Landesbühne habe man die "schöne Aufgabe, für ein sehr unterschiedliches Publikum sehr Unterschiedliches anzubieten und dabei künstlerisch keine Kompromisse zu machen", sagt Lange. Jeder Stoff könne neu erzählt werden, sagt Unser-Leichtweiß: "Das ist unsere einzige Chance, um auf lange Sicht kein Museum zu werden."
Ändern leben, nächste Vorstellungen am 6. und 7. November, "Der Lebkuchenmann" Premiere am 17. November, Landestheater Marburg. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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