Tagung mit Natan Sznaider: Mit Assimilation reagieren viele Juden auf Hass – der Antisemitismus verschwindet trotzdem nicht. Bei einer Tagung in Frankfurt fordert der Soziologe Natan Sznaider mehr jüdische Autonomie.
Natan Sznaider lässt das Cover eines "Spiegel Geschichte"-Magazins aus dem Jahr 2019 an die Wand projizieren. Darauf zu sehen sind zwei jüdische Männer, die einander anblicken: in altmodischer Kleidung, mit langen, weißen Bärten, mit Hüten und Gehstock, als typische "Ostjuden" erkennbar.
Dieses Cover zu dem Magazin über jüdisches Leben in Deutschland (Untertitel: "Die unbekannte Welt nebenan") hat damals Empörung hervorgerufen – besonders von jüdischer Seite. Als "Klischee" wurde das Titelbild kritisiert, als Festschreibung von Stereotypen.
Juden machen sich unsichtbar
Der Soziologe Sznaider, emeritierter Professor der Akademischen Hochschule in Tel Aviv, 1954 in Mannheim geboren, nach Israel ausgewandert, teilt diese Kritik nicht. Für ihn stellt die Auseinandersetzung über das abgedruckte Bild eine andere Frage: Sind Juden in Deutschland zu eifrig darin, sich unsichtbar zu machen, sind sie zu bemüht, sich zu assimilieren? "Genau so sehen Juden aus", sagt Sznaider über das Foto der zwei Männer. Und dass alle Versuche, sich unsichtbarer zu machen, den Antisemitismus nicht haben kleiner werden lassen.
Die "aufklärerische" Strategie, durch Assimilation zu Gleichheit zu gelangen, ist nicht aufgegangen. Darum plädiert Sznaider für mehr "jüdische Autonomie". Juden sollten sich unabhängiger machen, fordert der Soziologe: unabhängiger vom politischen Diskurs um sie herum, von den Demonstrationen der Palästina-Aktivisten, aber auch von den "progressiven Kreisen" und "von unserem eigenen rechten Nationalismus".
Diskussionen, Vorträge und Lesungen
Mit Sznaiders kämpferischem Plädoyer ist am Montag im Jüdischen Museum in Frankfurt eine Fachtagung unter dem Titel "Jüdisches Leben in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Autonomie", organisiert von der Initiative kulturelle Integration, eröffnet worden.
Wie hat das Massaker vom 7. Oktober das Selbstbild und den Alltag von Juden in Deutschland verändert? Wie lässt es sich umgehen mit den Debatten über Kunst- und Meinungsfreiheit, wie reagiert man auf Ausladungen israelischer Künstler in deutschen Kultureinrichtungen? Wie kann man verhindern, dass sich ein Eklat wie bei der "Documenta" wiederholt? In Vorträgen, Diskussionsrunden, aber auch Lesungen werden darauf im Jüdischen Museum Antworten gesucht.
Auf Sznaiders Forderung nach jüdischer Eigenständigkeit gehen dabei zahlreiche Redner ein. Mit seinem Vortrag scheint der Soziologe vielen Diskussionsteilnehmern aus der Seele zu sprechen. Der jüdische Publizist Michel Friedman formuliert es in einem Gespräch mit dem hessischen Kunst- und Kulturminister Timon Gremmels (SPD) und der Moderatorin Shelly Kupferberg, gewohnt prägnant und salopp, so: "Wenn man mich schon hasst, dann will ich wenigstens genießen, was ich bin: nämlich jüdisch."
Die Schockstarre überwinden
Zu spüren ist auf der Tagung auch ein Wunsch, der "Schockstarre" nach dem 7. Oktober zu entkommen und wieder, wie es der Schriftsteller Doron Rabinovici in einer Diskussionsrunde über "Jüdische Widerständigkeit" ausdrückt, "eine Stimme zu finden", auch wenn man sich selbst noch mitten in der Auseinandersetzung mit dem Massaker befinde. "Ich schwimme in meinem eigenen Koordinatensystem", beschreibt Yael Kupferberg, zurzeit Vertretungsprofessorin an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie der Frankfurter Goethe-Universität, diesen Zustand.
In einer anderen Runde mit Deborah Schnabel, der Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, der Theatermacherin Liora Hilb und dem Psychoanalytiker Kurt Grünberg, der den Frankfurter Treffpunkt für Überlebende der Schoa mitgründete, geht es um die Frage nach jüdischem Engagement. Hilb berichtet davon, dass es immer schwieriger werde, Schulkinder mit ihren Theaterstücken über den Holocaust zu erreichen. Nach dem 7. Oktober wurden außerdem viele ihrer Aufführungen abgesagt – aus Angst vor Konflikten.
Die Regisseurin will trotzdem nicht aufstecken. "Mir ist es wichtig, dass ich authentisch bin", sagt Hilb. "Ich werde weiter erzählen, was wichtig ist." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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