Kunst in Porzellan: In der Höchster Porzellanmanufaktur wird seit knapp zwei Jahren nicht mehr nur produziert, sondern auch gelehrt und geforscht. Besuch an einem Ort, wo Tradition auf Innovation trifft.
Mit einem selbst geschnitzten sogenannten Modellierholz, das einem Pinsel ohne Haar ähnelt, arbeitet Sylke Bosse die Details an der Figur des etwa dreißig Zentimeter großen Rheingauer Winzers heraus. Details, wie die Beeren der Weintraube, fügt die Porzellangestalterin mit einem Skalpell hinzu. Anschließend kaschiert Bosse die Nahtstellen. Wie gemalt sehen der Hut, das lange wellige Haar und die Knöpfe der Weste der Figur nun aus, die an einen Adligen aus dem 18. Jahrhundert erinnert.
Seit 1991 arbeitet Bosse als Porzellangestalterin in der Höchster Porzellanmanufaktur. Damals, in den Neunzigerjahren, hatte das Unternehmen rund 70 Angestellte und vier Verkaufsstellen. Doch vor zwei Jahren wäre es mit Höchster Handwerkskunst fast vorbei gewesen. Im Juni 2022 meldete die Manufaktur, der im Jahr 1746 der Mainzer Erzbischof Johann Friedrich Karl von Ostein das Gründungsprivileg erteilt hatte, Insolvenz an. Wenige Monate später gab das Land Hessen bekannt, die Vermögenswerte der Manufaktur zu übernehmen und den Standort um eine Ausbildungsstätte zu ergänzen. Heute arbeiten noch drei von damals acht Angestellten für die Manufaktur.
Figurenproduktion dauert etwa eine Woche
Trotzdem ist der denkmalgeschützte Industriebau am Stadtpark von Frankfurt-Höchst voller Leben. Denn im Januar 2023 ist die Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach an der Palleskestraße eingezogen. Der Umbau zu einer Lehr- und Forschungseinrichtung hat 900.000 Euro gekostet und wurde im vergangenen Sommersemester fertiggestellt. Mit bis zu 1,5 Millionen Euro im Jahr fördert das Land Hessen laut eigener Aussage den Ausbau der HfG inklusive des Produktionsangebots der Höchster Porzellanmanufaktur.
Rund 80 Studenten forschten hier je Semester, sagt Merja Herzog-Hellstén, Leiterin des Labors Kunst und Keramik, beim Besuch in Deutschlands – nach der in Meissen – zweitältester Porzellanmanufaktur. Eine dieser Studenten ist Jackie Youn. Die in Südkorea geborene Künstlerin beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Mensch und Natur. "Jeder von uns ist Ursprung für neue Entdeckungen", sagt Youn. Die Suche nach Neuem und Unbekanntem stellt die im Jahr 1990 geborene Studentin durch dynamische und abstrakte Formen dar. Die nach oben gerichteten Linien sollen Antrieb und Leidenschaft symbolisieren.
Etwa eine Woche benötigt die Offenbacher Studentin für die Produktion einer Figur aus Steinzeug. Ein Material, aus dem auch Bembel gefertigt werden. Zunächst gießt Youn die flüssige Masse in eine fünfteilige Form. Nach dem etwa zwei Tage langen Trocknen beginnt sie, die bis dahin grob geformte Figur zu modellieren, also auszuhöhlen. Dann kommt die Skulptur bei etwa 900 Grad in den Ofen. Die Temperatur wird hierbei langsam erhöht, um den porösen Festkörper beim Übergang in einen festeren Zustand nicht zu strapazieren.
Verbundenheit zu Hessen und Frankfurt
Nach dem ersten Brand taucht Youn die Skulpturen in eine Glasur, die sie aus mineralischen Rohstoffen gemischt hat, bevor der zweite Brand erfolgt. "Wenn man den Ofen öffnet, fühlt es sich ein bisschen wie Weihnachten an", sagt Herzog-Hellstén. Denn der Manufakturausschuss – damit ist der Anteil der Produktion gemeint, der fehlerhaft ist – liege bei rund 20 Prozent. Die Studenten wissen also nicht, ob nach dem Öffnen des Ofens das Produkt so herauskommt, wie sie es sich erhoffen.
Zu kaufen gibt es die Werke der Studenten nicht. Anders als die Produkte, die in der Manufaktur gefertigt werden. Allerdings sind auch die, anders als früher, nur noch online zu bestellen. Heute kämen die Kunden aus aller Welt, sagt Steffen Taubhorn, Leiter der HPM-Produktion. Auf der Fensterbank in der Bossiererei steht eine weiße Eule. Später soll sie mal golden glänzen. Eine fünfstellige Summe muss man Taubhorn zufolge für das in limitierter Auflage für den asiatischen Markt gefertigte Tier zahlen. Günstiger kommt man mit dem Hessenlöwen, dem Wappentier des Bundeslandes, davon. Er ist eines der bekanntesten Produkte der Manufaktur und wird von der Landesregierung häufig als Gastgeschenk bei Staatsbesuchen verwendet. Der Preis für den kleinsten, etwa zehn Zentimeter hohen Löwen beträgt 95 Euro. Aus gerade mal zwei Einzelteilen bestehe die Figur mit der ausgestreckten Pranke, erläutert Taubhorn. Nur der Schwanz müsse extra angesetzt werden.
Die Verbundenheit zu Hessen und besonders zu Frankfurt spiegelt sich generell in der Produktpalette wider. So bietet die Porzellanmanufaktur eine Struwwelpeter-Edition an. Die im Jahr 1844 von dem Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann erfundene Figur gehöre seit den Achtzigerjahren als Motiv auf Produkten zum Sortiment, sagt Taubhorn. Zehn Euro kostet eine zehn Zentimeter hohe Tasse, die es auch mit einem Abbild des Suppenkaspars oder des Zappelphilipps gibt.
Deutlich teurer ist hingegen ein zehn Zentimeter hoher Bulle, das Symbol für steigende Kurse am Deutschen Aktienindex. 990 Euro kostet er, ist dafür aber länger als der etwa gleich hohe Hessenlöwe. Daher müssten die Gliedmaßen des Bullen einzeln angesetzt werden, sagt Taubhorn. Dazu kämen weitere Details wie Ohren und Hörner, die für das günstigste Modell des Porzellanlöwen nicht extra gefertigt werden müssten.
Im Aufbereitungsraum im Erdgeschoss der Manufaktur werden unterdessen die drei Rohstoffe im Löser unter Zugabe von Wasser zusammengeführt. "Wie ein Quirl, der den Kuchenteig vermengt. Nur ein bisschen größer", sagt Taubhorn. Danach wird die flüssige Porzellanmasse, der sogenannte Schlicker, durch ein Rohr nach oben gepumpt und in Modellformen gefüllt. Bis zu 40 Einzelteile benötige man für eine Figur, sagt Taubhorn. Eine Etage über dem Aufbereitungsraum steht ein sogenanntes Gießkarussell. Mit einem leichten Schubs stößt Steffen Taubhorn die zweigeschossige Konstruktion an, die ohne weitere Energiezufuhr minutenlang in Bewegung bleibt.
Während sich das Karussell scheinbar endlos dreht, saugt der in den Formen enthaltene Gips Wasser aus der bis dahin flüssigen Porzellanmasse, eine Scherbe entsteht. So bezeichnen Fachleute die geformte, aber noch nicht gebrannte Masse. Wie lange die nötige Standzeit auf dem Karussell ist, "steht in keinem Lehrbuch", sagt Taubhorn. Seine Arbeit beruht auf Erfahrungswerten. Die kürzeste Standzeit hätten Windlichter mit einer Dauer von etwa einer Minute, die längste der Sockel einer Schnee-Eule mit rund 80 Minuten.
Zeitgemäße Gestaltung soll Jüngere ansprechen
Geduld und Gefühl sind auch beim Trocknen gefragt. Wenn die Scherbe einen Luftzug abbekomme, könne sie sich verformen. "Porzellan ist eine Diva", sagt Taubhorn. Bei etwa 980 Grad werden die Scherben nach dem Trocknen in einem Ofen gebrannt. Womit die Temperatur ungefähr 80 Grad höher liegt als bei dem Brennvorgang mit Tonobjekten. Die "Diva" Porzellan hat es eben gerne etwas heißer, bevor sie in ein Glasurbad getaucht wird. Anschließend folgt der Glattbrand bei 1380 Grad, der das Material mit der Glasur verbindet. Um etwa ein Sechstel schrumpft das Modell während des Brennvorgangs.
Überhaupt wird in der Höchster Manufaktur mehr gebrannt als in jeder Odenwälder Destillerie. Denn mit zwei Bränden ist es noch nicht getan. Schließlich sind die Figuren zu diesem Zeitpunkt noch weiß. Für die Dekoration kommen die Produkte in die Malerei. Bis zu acht sogenannte Dekorbrände erhalten manche Figuren. Die Farben Rot und Gelb müssten getrennt aufgetragen werden, da sie sich sonst vermischten, sagt Taubhorn. Je bunter, desto mehr Brände also. Vor allem die Farben Kobaltblau, Gold und Purpur benutzen die Porzellangestalter in Höchst.
Manche Figuren, wie der Hase von Albrecht Dürer, seien früher dezenter gehalten gewesen, zum Beispiel in einem "antiken Weiß", erklärt Taubhorn. Nun verkaufe man ihn für rund 1100 Euro auch in einer mit Platin überzogenen Version, die besser in modern eingerichtete Wohnungen passe. Bei einer Gruppe von vier chinesischen Musikanten sind die Farben dezent gehalten, obwohl sie im Original des Bildhauers Johann Peter Melchior aus dem 18. Jahrhundert bunter waren. Man versuche, durch zeitgemäße Gestaltung eine jüngere Zielgruppe anzusprechen, sagt Taubhorn.
Höchster Handwerkskunst in Wohnzimmern von Stars
Bis zu 20 Tonnen Porzellan habe die Manufaktur in den Neunzigerjahren jährlich produziert, sagt Taubhorn. Heute seien es nicht mehr als zwei bis drei Tonnen im Jahr. Auch habe man nur noch etwa 500 Produkte im Angebot. Vor drei Jahrzehnten seien es 1500 gewesen. Die "Tischkultur" habe sich geändert, äußert der Produktionsleiter.
Mit dem Residency-Programm, einem Projekt, das die HfG Offenbach mit der Crespo- und der Aventis Foundation in der Manufaktur anbietet, sollen Innovationen bei der Figurengestaltung gefördert werden. Vier Monate lang können die Stipendiaten, meist Absolventen von Kunsthochschulen, mit Porzellan experimentieren. Ein Künstler nutze zum Beispiel ein computergestütztes Designprogramm, um mit 3D-Druck archäologische Funde aus dem Nahen Osten in Porzellanvarianten wieder aufleben zu lassen, erzählt Nadya Bascha, die Leiterin des Programms.
Eine Skulptur, die in Höchst erst seit dem vergangenen Jahr produziert wird, ist die auf dem B3 Festival des bewegten Bildes als Preis vergebene Figur. Seit 2013 werden bei dem internationalen Medienwettbewerb in Frankfurt Talente und etablierte Größen mit dem Ben-Award ausgezeichnet. Die Figur mit dem überdimensionalen gestreckten Kopf soll einen Menschen in Bewegung darstellen. Im Oktober wurde der Ben-Award für das Lebenswerk an die Regisseurin Margarethe von Trotta verliehen. 2021 erhielt mit Oliver Stone sogar ein dreimaliger Oscar-Gewinner diese Auszeichnung. Sollte die neuerdings von der Manufaktur gefertigte Porzellanfigur auch in Zukunft beim Frankfurter Filmfestival vergeben werden, steht Höchster Handwerkskunst also vielleicht schon bald in den Wohnzimmern mancher Hollywoodstars. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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