Protest gegen Fassbinder-Stück: Im Frankfurter Kammerspiel sollte das umstrittene Fassbinder-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" uraufgeführt werden.
Doch dazu kam es nicht. Thomas Kirn und Josef Oehrlein berichteten im November 1985 über die Besetzung der Theaterbühne.
Der Eingang zum Kammerspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt liegt auf der Rückseite eines Gebäudekomplexes aus den sechziger Jahren. Fast fensterloses Betongrau überragt die von scharfem Punktlicht der Fernsehteams ausschnittweise erleuchtete Demonstrantenszene, Metallgitter markieren die schmale Gasse zum Theater durch eine vielhundertköpfige Menschenmenge, die gegen die Uraufführung angetreten ist. Manche tragen gelbe Sterne mit der Aufschrift "Jude", Nachbildungen jener Zwangskennzeichnung, mit der die Nazibürokratie jüdische Mitbürger erniedrigte, ehe sie auf Güterwagen verladen und in den Tod geschickt wurden. Stadtverordnete der drei bürgerlichen Parteien FDP, CDU und SPD gehören mit zu den Organisatoren des Protests gegen "Der Müll, die Stadt und der Tod", drei Damen der politischen Lokalprominenz tragen Schilder mit der ihnen wichtigsten Parole des Abends: "Wehret den Anfängen!" Frolinde Baiser, Edith Strumpf und Erika Steinbach-Hermann sind nicht nur die Protagonistinnen ihrer Parteien, sondern auch solidarische Stellvertreterdamen für die Womens International Zionist Organization, der jüdischen Frauenorganisation.
In Frankfurt demonstrieren bedeutet an diesem Abend auch, sich in Aggressivität und äußerem Auftreten von der in dieser Stadt gewohnten radikalen Szene zu unterscheiden. So werden Flugblätter von schick gekleideten jungen Frauen verteilt, die ihre Protestbotschaften mit einem Lächeln loswerden. Über ein eher zu leises Megaphon sind immer wieder Aufrufe zu hören, niemanden am Betreten des Kammerspiels zu hindern, und nur vereinzelt werden die Ehrengäste, Kritiker und Inhaber der vierzig frei verkauften Eintrittskarten mit dem Schmähruf "Schämt euch!" bedacht.
Die Kundgebung vor dem Haus wird offiziell eine Viertelstunde nach dem geplanten Vorstellungsbeginn beendet; etwa zweihundert Demonstranten bleiben und quittieren in den nächsten Stunden die Nachricht, daß im Theater noch immer nicht gespielt, sondern diskutiert werde, mit Jubel. Es werden hebräische Lieder gesungen, Kampflieder des jüdischen Widerstandes, wie ein jüdischer Student erläutert. "Wir Juden, wir haben keine Angst mehr!" ruft einer ins Mikrophon, als habe es auch nur den Schatten eines Versuchs gegeben, den Protest gegen ein Theaterstück zu behindern. Das Auftauchen von drei Neonazis, die bald wieder verschwinden, führt zur Ausgabe von Schauerparolen, niemand solle allein nach Hause gehen, weil in Seitenstraßen mit Schlägertrupps zu rechnen sei.
Vorwurf des Antisemitismus
Um 23 Uhr verläßt die Galionsfigur der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, Ignatz Bubis, das Theater. Er hatte die Bühne mit besetzt gehalten und die Uraufführung verhindert. Er geht rasch durch die Menge, die ihm applaudiert und "Bravo!" zuruft. Er ist einer der Männer, die auf Plakaten der Grünen, die sich für die Aufführung des Fassbinder-Stücks einsetzen, als Spekulant gemeint sind. Er ist es auch, der sich durch die Figur des "reichen Juden" im Fassbinder-Stück persönlich gekränkt und beleidigt sehen kann. Bubis hatte, wie andere Kaufleute in den frühen siebziger Jahren, die Chancen wahrzunehmen versucht, die sich aus der offiziellen städtischen Planungspolitik ergaben. In "Der Müll, die Stadt und der Tod" verkürzt sich eine komplizierte jahrelange Auseinandersetzung um richtige und falsche Städtebaupolitik auf den "reichen Juden", der sich in der Szene von Huren und Homosexuellen bewegt. Der Vorwurf des Antisemitismus ergibt sich für die nicht nur aus künstlerischen Gründen gegen die von Intendant Günther Rühle vorangetriebene Inszenierung Opponierenden jedoch nicht allein aus der Figur des "reichen Juden", sondern auch aus antisemitischen Textstellen, die alten Nazis in den Mund gelegt werden.
Es fing ganz harmlos an. Während die Schauspieler auf der Bühne schon für die erste Szene Position bezogen hatten, betraten immer mehr Personen die Szene, bis es zuletzt sechsundzwanzig waren, und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift "Subventionierter Antisemitismus". Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. Man empfinde die geplante Aufführung des Fassbinder-Stücks, in den Wochen zuvor schon in etlichen Diskussionen von den einen heftig befehdet, den anderen ebenso hartnäckig verteidigt, als Beleidigung und Diffamierung aller jüdischen Mitbürger dieser Stadt.
Wortstark wie je, meldete sich sofort der demonstrationserprobte Achtundsechziger Daniel Cohn-Bendit zu Wort und beherrschte fürderhin erst einmal das Szenario. Seine Tiraden waren beredter Ausdruck für die widersprüchlichen Standpunkte, die an jenem Abend kundgetan wurden. Er fühle sich von dem Stück keineswegs beleidigt, aber er begrüße auch die Aktion. Endlich könne man einmal sehen, wie so etwas zu machen sei, ohne daß gleich die Polizei geholt werden müsse.
Diskussion mit dem Publikum geplant
Der Schauspiel-Intendant warb dafür, daß man sich doch, bitteschön, die in zehn harten Probenwochen erarbeitete Inszenierung einmal ansehen und dann erst urteilen möge, ob das Stück auf dem Theater wirklich den Antisemitismus-Vorwurf verdiene. Und der Kulturdezernent, Hoffmann, betrieb Sympathiewerbung für Rühle. Er, sagte der Stadtrat, halte den Intendanten für eine "absolut integre Persönlichkeit", bei der er die Aufführung gut aufgehoben wisse. Aber auch eine Resolution der Schauspieler, in der sie bekannten, daß keiner gezwungen worden sei, an der Inszenierung mitzuwirken, vermochte die Besetzer nicht umzustimmen. In solchen Momenten hielt Ignatz Bubis, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, nur noch fester die Buchstaben "i" und "o" auf den beiden Transparentteilen, die er in Händen hatte, zusammen.
Auf großen Zetteln war im Foyer angekündigt, daß man nach der Aufführung mit dem Publikum diskutieren wolle. Aber bei jedem Versuch, die Aufführung doch noch in Gang zu bringen und die Diskussion erst danach zu führen, teilte ein Sprecher der Demonstranten mit, daß man wohl immer noch nicht den Sinn ihres Unterfangens verstanden habe: Die Uraufführung werde auf jeden Fall verhindert. So blieb, nach drei Stunden fruchtlosen Diskutierens, das nahezu alle sattsam bekannten Pro- und Kontra-Argumente wieder heraufschwemmte, dem Kulturdezernenten und dem Intendanten nichts anderes übrig, als die Premiere, die keine war, zu beenden. Ein Dacapo ist für den kommenden Montag zu befürchten: Rühle will spielen, die Jüdische Gemeinde will wieder verhindern. Für den November sind insgesamt acht Vorstellungen auf dem Spielplan.
Der Streit um Rainer Werner Fassbinders Drama "Der Müll, die Stadt und der Tod" spaltete die Frankfurter Stadtgesellschaft. Dabei standen sich unter anderen Theaterintendant Günther Rühle und der spätere Vorsitzender des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, gegenüber.
Dieser Artikel erschien am 2.11.1985 © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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