Nach der Pandemie: Es werden wieder mehr Jugendliche straffällig, in Hessen wie auch bundesweit. Vor allem mit Gewalt gibt es ein Problem. In Frankfurt aber sieht es anders aus.

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Auch in einer Vollmondnacht ist es nach Sonnenuntergang ziemlich dunkel im Holzhausenpark im Frankfurter Nordend. Alle 50 Meter ein Lichtkegel der Wegebeleuchtung, dazwischen werfen Bänke, Bäume und Klettergeräte auf dem Spielplatz ihre langen Schatten. Hin und wieder schlendern ein oder zwei Spaziergänger vorbei, aber ansonsten ist nachts nicht mehr viel los im Park.

Für einige Jugendliche war das ruhig und dunkel genug, um hier mehrere Personen auszurauben. Im September bedrohten sie mit einer Schusswaffe zunächst einen 15 Jahre alten Jugendlichen und nahmen ihm Geldbeutel und Kopfhörer ab. Er meldete sich bei der Polizei, so wie kurz darauf ein 23 Jahre alter Mann, von dem die Gruppe ebenfalls den Geldbeutel verlangte. Er habe kein Geld dabei, soll er gesagt haben, daraufhin sei die Gruppe geflohen. Noch ein weiterer, 33 Jahre alter Mann ist nach Polizeiangaben an jenem Abend Opfer der Gruppe geworden.

Berichte von solchen Übergriffen mehren sich in jüngster Zeit. Auch auf der Zeil wurden im Oktober Passanten überfallen – die Opfer waren Schüler. Die Polizei setzte daraufhin Zivilfahnder ein, die auf der Zeil verdeckt Streife liefen und schließlich drei Jugendliche im Alter von 13 und 14 Jahren bei einem ihrer Raubzüge beobachteten. Sie nahmen sie noch am Tatort fest. Als Motiv gab einer der Tatverdächtigen an, es sei um das Geld gegangen. Aber wohl nicht nur. Er sagte weiter: Andere Jugendliche auszurauben, das sei an ihrer Schule gerade "Trend".

Anstieg der Fallzahlen nach der Pandemie

Besondere Erschütterung rief ein Angriff am Darmstädter Luisenplatz im November vergangenen Jahres hervor, bei dem ein damals 15 Jahre alter Jugendlicher einen Obdachlosen beraubte – und durch Schläge, vor allem aber durch Tritte so schwer misshandelte, dass der Mann seinen Verletzungen erlag. 87 Mal hatte der Täter auf ihn eingetreten, hieß es später vor Gericht. Der Richter sprach im Hinblick auf die Gewalt, die von dem Fünfzehnjährigen ausgegangen war, von einem "absoluten Vernichtungswillen". Das Opfer hieß Andreas N. Ein Verein sammelte Spenden, damit er ein würdiges Begräbnis bekam.

Was also ist los mit der Jugend? Sind das Einzelfälle? Oder ist das Ganze doch eher Ausdruck einer Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren angebahnt hat? Zumindest die Statistiken der Polizei zeigten zuletzt einen Anstieg der Jugendkriminalität in Hessen. Nach einem merklichen Rückgang in den Pandemiejahren 2020 und 2021 steigt die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen seitdem wieder an. 33.288 Verdächtige unter 21 Jahren ermittelte die hessische Polizei für das Jahr 2023, ein Anstieg von 8,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist auch das Niveau von den Jahren unmittelbar vor der Pandemie schon übertroffen.

Warum das so ist, darüber herrscht noch keine Einigkeit. Christof Nägel von der Universität Köln hat sich mit einem Kollegen im vergangenen Jahr darangemacht, den Anstieg der Jugendkriminalität nach der Pandemie zu ergründen. Was sie anhand der Polizeidaten feststellen konnten, war, dass vor allem Vierzehn- bis Sechzehnjährige häufiger Straftaten begingen. Insbesondere Gewalttaten und Diebstähle hätten nach der Pandemie zugenommen. Nägel sagt, Kollegen seien mitunter skeptisch, was die kurzfristige Aussagekraft der Kriminalstatistiken angehe. Im Prinzip könnten andere Gründe die Ergebnisse beeinflussen. Auch wird in der Statistik ein Tatverdächtiger für eine Art von Vergehen nur einmal gezählt, auch wenn er beispielsweise fünfmal etwas gestohlen habe.

Der Anstieg 2022 und 2023 zeige sich aber nicht nur in den Daten der Polizei, es gebe dafür auch anekdotische Belege aus den Schulen, sagt Nägel. "Das sollte man schon ernst nehmen." So berichtete etwa der Schulleiterbund, dass viele Lehrer das Gefühl hätten, die Bereitschaft zur Gewalt habe zugenommen, wie auch der Umgangston rauer geworden sei. Ein Teil des Anstiegs, das ermittelten Nägel und sein Kollege, sei eine Art Nachholeffekt. Dass Heranwachsende im Jugendlichenalter besonders häufig straffällig würden, sei durchaus üblich.

Das werde darauf zurückgeführt, dass junge Menschen sich ausprobieren wollten, Grenzen austesteten und dabei auch überschritten. Ebenso sei üblich, dass die meisten der Straftäter, wenn sie ins Erwachsenenalter kämen, sich wieder an die Gesetze hielten. Grenzen auszureizen sei aber den Jugendlichen in der Pandemie nicht in der Form möglich gewesen wie sonst. Zu Hause im Lockdown sei die Familie immer in der Nähe, und die Mitschüler seien nur auf dem Bildschirm zu sehen gewesen. Streifzüge auf eigene Faust, Streiche oder Mutproben seien somit zur Seltenheit geworden.

Zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen keine großen Unterschiede

Eine These lautet deshalb: Dies werde nun nachgeholt. "Aber das müsste ja dann vorübergehend sein", gibt Nägel zu bedenken. Neue Daten müssten noch zeigen, ob das so stimme. Andere Gründe könnten seine Untersuchungen bisher nicht belegen, etwa dass der Besuch der Schule die sozialen Kompetenzen stärke und es somit unwahrscheinlicher mache, dass Schüler straffällig würden. Auch zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen konnte Nägel keine großen Unterschiede bei den beobachteten Nachholeffekten feststellen.

Die jugendliche Raubserie im Holzhausenpark ist jedenfalls nicht die einzige in Frankfurter Parks in den vergangenen Jahren. 2021 fand eine Serie im Günthersburgpark statt, 2022 im Grüneburgpark, in diesem Jahr war die jüngste Raubserie auch im Holzhausenpark nicht die erste. Schon im Mai wurden mehrere junge Leute in dem Park bedroht und ausgeraubt. Unter den nächtlichen Parkbesuchern haben die meisten nichts von den Überfällen gehört. Eine junge Frau, die in der Nähe wohnt, sagt trotzdem: "Allein würde ich mich hier nachts nicht hinsetzen."

Aufmerksam zu sein, daran appelliert auch Frank Hildebrand von der Frankfurter Polizei. Er leitet dort die Inspektion 50, bei der die Polizeiarbeit mit Jugendlichen gebündelt ist – und somit auch die jüngsten Überfälle. Die insgesamt sechs Taten in dem ansonsten äußerst beschaulichen Holzhausenpark, der eingebettet ist in eine der besten Frankfurter Wohngegenden mit villenartigen Häusern und hochpreisigen Wohnungen, seien von der Anzahl her "eher überschaubar".

Überhaupt habe sich die Jugendkriminalität in Frankfurt entgegen dem Landes- und Bundestrend entwickelt. In diesem Jahr seien die Fallzahlen in der Jugendkriminalität vergleichsweise niedrig. Aber klar sei auch, dass Überfälle wie die im Holzhausenpark besondere Aufmerksamkeit erregten, so Hildebrand. Da denke jeder, er oder sie könne auch Opfer werden.

Sich vor der Peergroup behaupten

In den Parks, das räumt Hildebrand ein, komme es häufiger als andernorts zu Straftaten von Jugendlichen. Dort hielten sich junge Menschen auf, konsumierten auch Alkohol oder Drogen. Das erhöhe die Gefahr, da Jugendliche die meisten Straftaten spontan begingen. Auch für den Holzhausenpark kann sich Hildebrand nicht vorstellen, dass die Überfälle lange geplant waren. "Für mich ist das Hauptmotiv nicht, Geld zu machen, sondern sich eher vor der Peergroup zu behaupten."

Insgesamt sei die Jugendkriminalität auf einem deutlich niedrigeren Niveau als vor zehn, zwanzig oder auch dreißig Jahren, sagt Hildebrand. Das bestätigt auch Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Obwohl der individuelle Eindruck häufig ein anderer sei, zeigten eine Vielzahl von Erhebungen, dass sowohl die Anzahl als auch die Schwere jugendlicher Straftaten über die vergangenen Jahrzehnte deutlich zurückgegangen seien. "Wir haben ein Problem, es wird nur nicht dramatisch schlimmer", sagt Rettenberger.

In Frankfurt, darauf verweist Hildebrand, sei die Jugendkriminalität auch in jüngster Zeit nicht gestiegen, sondern entgegen dem Bundes- und Landestrend weiter gesunken. Für 2023 wurden 11.309 Tatverdächtige unter 21 Jahren erfasst, ein Rückgang von 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zur Erklärung verweist Hildebrand unter anderem auf die vier Häuser des Jugendrechts hin, in denen Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Jugendgerichtshilfe unter einem Dach zusammenarbeiten.

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Zudem sei dort immer derselbe Sachbearbeiter der Polizei für einen Jugendlichen zuständig. Die Ermittler und Sozialarbeiter in den Häusern erhielten so ein umfassendes Bild von der Person und ihrem Umfeld. "Es sind einige wenige, die uns immer wieder beschäftigen. Obwohl wir in einer Großstadt tätig sind, wissen wir daher trotzdem sehr genau, wer in welchen Bereichen aktiv ist." Auch in Darmstadt ist mittlerweile eine solche Einrichtung geplant. Das ist eine der Lehren, die die Stadt aus dem Mord an Andreas N. gezogen hat.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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