Filmwochenende zu Rassismus: Kann Kunst anders ermitteln als Polizei und Justiz? Anhand eines Filmwochenendes in Hanau, Frankfurt und Offenbach kann das Publikum das Prinzip selbst nachvollziehen. Im Fokus stehen Rassismus und rechtsextreme Gewalt.
"Auch ich zahle Steuern, sage ich. Ich werde es immer wieder sagen", schrieb Semra Ertan in ihrem bekanntesten Gedicht "Mein Name ist Ausländer". Mit 14 Jahren kam Ertan aus Mersin in der Türkei nach Deutschland. Sie lernte Bauzeichnerin, übersetzte für andere türkische Arbeitsmigranten und schrieb Gedichte. Kurz vor ihrem Tod ist sie in den Verband deutscher Schriftsteller eingetreten.
Ein Akt der Aufnahme und der Annahme, wie die junge Lyrikerin ihn in Deutschland ansonsten nicht erlebt hatte. Zunehmenden Rassismus spürte sie in der deutschen Gesellschaft, sie klagte ihn an, verlas ihr Gedicht. Am 24. Mai 1987 verbrannte sie sich öffentlich an einer Hamburger Straßenkreuzung, sie starb zwei Tage später, an ihrem 25. Geburtstag.
Der Kurzfilm "Semra Ertan" von Cana Bilir-Meier aus dem Jahr 2013 ist nur einer der vielen Beiträge, die nun in einem dichten Programm in Hanau, Offenbach und Frankfurt zu sehen sind. Es geht weit zurück an den Beginn der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und es führt bis ins Heute, bis nach Hanau, zu den Morden vom 19. Februar 2020.
"Im Dunkeln sehn"
Dort, in Hanau, und in Kooperation mit der Initiative "Kein Schlussstrich Hessen", beginnt das Programm auch und mit einem Film, der ein Jahr vor den Morden von Hanau entstanden ist: "Spuren" der Regisseurin Aysun Bademsoy befasst sich mit den Morden des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), die im November 2011 mit dem Tod zweier der Attentäter bekannt geworden sind.
Bademsoy, die den Münchner Prozess gegen die NSU-Terroristin Beate Zschäpe verfolgt hat, richtet den Blick auf diejenigen, die jahrelang verdächtigt und kriminalisiert worden sind, deren Aussagen man keinen Glauben schenkte und die in ihrer Trauer alleine waren: den Familien und Freunden der Opfer. Es ist ein anderer Blick, der ans Tageslicht holt, was übersehen und vernachlässigt worden ist.
Aysun Bademsoy wird selbst anreisen und mit dem Publikum ins Gespräch kommen – und so soll es das ganze Wochenende weitergehen. Mit einem langen Filmtag zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) am 9. November und mit einem weiteren dichten Programm in den Frankfurter Kinos des Deutschen Filminstituts und Filmmuseums sowie Pupille und Mal Seh’n.
"Im Dunkeln sehn" haben die Kuratorinnen Marie-Hélène Gutberlet, Filmprofessorin an der HfG, und Franziska Wildt zusammen mit Felix Trautmann, beide Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS), ihr Programm genannt. Auch, um die Anstrengung zu vermitteln, die es braucht, um das Dunkel rassistischer und rechtsextremer Handlungen durch bewusstes Hinsehen zu lichten.
Es geht nicht um Lösungen
Das Filmwochenende ist gewissermaßen die praktisch-öffentliche Seite eines Forschungsvorhabens, das vom IfS in Kooperation mit Gutberlet 2023 aufgenommen worden ist und bis 2026 samt mehrerer Publikationen laufen soll. "Die Kunst der Gegenuntersuchung" heißt es und befasst sich mit einem relativ jungen, aber sehr fruchtbaren Phänomen: künstlerischen Arbeiten, die mit Verfahren der Analyse und Schilderung Phänomene erfassen und zeigen können, in die Justiz oder Polizei nicht vordringen. Nicht vordringen wollen, würden sicher viele sagen, gerade mit Blick auf Rassismus und Rechtsextremismus, auch auf Polizeigewalt, und auch das dürfte Thema der Gespräche bei "Im Dunkeln sehn" werden.
In der Forschung, erläutert Franziska Wildt, knüpfe das Projekt an einen schon bestehenden Diskurs an, der sich auf künstlerische Arbeiten, etwa in Literatur, Theater, Film bezieht, die mit spezifischen Verfahren und ästhetischen Methoden ein neues Wissen, andere Blicke aus anderen Erfahrungen heraus produzieren. Die Kunst hake in die Leerstellen ein, so Wildt.
Das schlägt sich nun in einem dichten Programm von Filmen zu Arbeitsmigration, Rassismus und vor allem zu rechtsextremer Gewalt nieder, ob sie experimentelle Clips sind wie Natascha Sadr Haghighians "Social Media Series" zu Orten der Migration oder ganz frühe filmische Darstellungen der Ausbeutung von Arbeitsmigranten wie der Kurzfilm "Hausordnung" von Želimir Žilnik aus dem Jahr 1975, der die schlechten Wohnbedingungen und die autoritäre Haltung deutscher Vermieter darstellt.
Über alle diese Filme soll gesprochen werden, zahlreiche Filmemacherinnen und Regisseure, Fachleute verschiedener Disziplinen werden ebenso anreisen wie Studentengruppen aus Stuttgart oder Kassel. "Asamblea" hat das kuratorische Team die dreitätige Veranstaltung genannt, nach einem Begriff aus der Occupybewegung.
Die Versammlung zur gleichberechtigten Diskussion und basisdemokratischen Entscheidungsfindung als Blaupause für ein Filmwochenende deutet an, worum es gehen soll: Menschen in den Dialog zu bringen.
"Es gibt Gesprächsrunden, keine Experten, die frontal reden", sagt Gutberlet. Der Wunsch: So viele Personen wie möglich sollen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven in einen Austausch kommen. "Der Kinoraum wird eine Form von Diagnostikklinik. Es geht ja nicht darum, Lösungen zu zeigen." Sondern gemeinsam Spuren zu suchen.
"Im Dunkeln sehn", Filmreihe im Kinopolis Hanau am 8. November von 18 Uhr an, in der HfG Offenbach am 9. November ganztags von 10 Uhr an, am 10. November in Frankfurt in DFF, Pupille und Mal Seh’n. Programm unter hfg-offenbach.de im Kalender. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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