Schulen in Hessen: Die Schulen in Hessen sollen zugewanderten Kindern nun auch gesellschaftliche Werte vermitteln.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Lehrer empfinden die Vorgabe als populistisch und die Art, wie sie ihre Arbeit dokumentieren sollen, als Zeichen von Misstrauen und Gängelei.

Die Lehrerin aus Südhessen ist "ziemlich wütend". Sie unterrichtet in einer Intensivklasse und versucht, zugewanderten und geflüchteten Kindern so schnell wie möglich die deutsche Sprache beizubringen, damit sie in den Regelunterricht wechseln können. Ihre Aufgabe sei es, die Kinder innerhalb bestenfalls eines Jahres auf das Sprachniveau B1 zu bringen. "Ich arbeite selbst wöchentlich viele Stunden über meinem Soll, um es den Kindern zu ermöglichen, Teil der deutschen Gesellschaft werden zu können. Dabei erwarte ich Unterstützung und nicht ein Gesetz wie dieses", sagt die Lehrerin.

Was ist passiert? Zum Beginn des Schuljahres hat das Hessische Kultusministerium verfügt, dass in den 2100 Intensivklassen, in denen mehr als 36.000 geflüchtete und zugewanderte Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch gesellschaftliche Werte vermittelt werden. Zwei Stunden pro Woche sollen die Lehrer darauf verwenden. Auf diese Weise soll "höfliches und respektvolles Verhalten im Unterrichtsalltag" eingeübt werden, wie Kultusminister Armin Schwarz (CDU) in einer Mitteilung an die Schulen schreibt.

Er erinnert an den Erziehungsauftrag der Schulen. "Es sind die gemeinsamen Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten." Dabei gehe es nicht nur um gesellschaftliche Fragen wie die Gleichberechtigung und das Handeln nach ethischen Grundsätzen, sondern "um das schlichte tägliche Danke und Bitte, um den angemessenen Ton auch im Konfliktfall" sowie "um das höfliche Vortragen einer Entschuldigung und das freundliche Einbringen einer Bitte". Die Lehrer werden per Link auf Unterrichtsmaterial hingewiesen, das vor allem von der Bundeszentrale für politische Bildung stammt.

"Das ist eine populistische Maßnahme"

Die Lehrerin aus Südhessen, die eine Intensivklasse unterrichtet, hält die Anregungen der Landesregierung für nicht besonders hilfreich. "Die Vermittlung von Werten ist sehr wichtig, findet in meinem Unterricht aber ohnehin schon statt." Sie formuliert mit ihren Schülern Klassenregeln und spricht mit ihnen zum Beispiel über das Grundgesetz und über Geschlechterrollen. Dass nun in einem ersten Schritt nur in den Intensivklassen die Werteerziehung eingeführt wird und nicht in allen Klassen, hält die Lehrerin für diskriminierend. "Das ist eine populistische Maßnahme". Nach ihrer Erfahrung sind die Kinder in Intensivklassen sogar eher höflicher als in anderen Klassen. Sie findet es auch nicht richtig, dass die zugewanderten Kinder zunächst isoliert von deutschen Schülern unterrichtet werden und rät, ihnen zumindest eine frühere Teilnahme am Sport- oder Kunstunterricht zu gestatten.

Dass sie den Werteunterricht auch noch dokumentieren und monatlich der Schulleitung zur Unterschrift vorlegen soll, hält die Lehrerin aus Südhessen für unnötige Gängelei. Auch der Hessische Philologenverband, der die Gymnasiallehrer vertritt, sieht dies kritisch. Die Vorgabe, dass Schulleitungen am Monatsende in allen Klassenbüchern die dort vermerkten Unterrichtsinhalte abzeichnen sollen, führe zu einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand, heißt es in einer Mitteilung. Die Regelung könne zudem als Misstrauen gegenüber den Kollegen aufgefasst werden. "Das Ministerium geht ja auch bei anderen Gesetzen und Vorgaben davon aus, dass diese vor Ort umgesetzt werden, insofern sollte diese Regelung umgehend wieder zurückgenommen werden", fordert Volker Weigand, Vorsitzender des Philologenverbandes.

Ministerium spricht von "gängiger Praxis"

Das Kultusministerium meint jedoch, der Aufwand sei überschaubar. Es sei seit jeher gängige Praxis, dass Schulleiter die etwa in Klassenbüchern dokumentierten Unterrichtsinhalte zur Kenntnis nähmen und abzeichneten. Das sei beim Werteunterricht nicht anders. Gerade weil damit in Intensivklassen nun auch Neuland betreten werde, sollen Erfahrungen aus der Praxis für andere Schulen nutzbar gemacht werden, heißt es. Außerdem gebe es an den Schulen in der Regel nur ein bis maximal drei Intensivklassen. Pro Monat seien also nur wenige Klassenbücher besonders anzuschauen.

Inhaltlich hält Weigand den Werteunterricht durchaus für geboten. Der Verbandsvorsitzende sieht Handlungsbedarf bei den alltäglichen Umgangsformen, der Gewaltprävention und im Hinblick auf Antisemitismus und Extremismus. Respekt vor den Mitmenschen, ein freundlicher und höflicher Umgang in der Schulgemeinde, das Anerkennen anderer Meinungen und ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz und zur Rechtsstaatlichkeit seien nicht verhandelbar.

Lehrer vermissen Gesamtkonzept

Kultusminister Schwarz will die Wertevermittlung noch ausweiten. Vom nächsten Schuljahr an soll sie an allen Schulen in Hessen verpflichtend sein. Weigand vermisst allerdings konkrete Vorstellungen, in welchem Umfang die Werteerziehung eingeführt wird, wie man Lernfortschritte messen will und welchen Fortbildungsbedarf dies nach sich zieht. Der Hinweis, dass die Schulen selbst Vorschläge machen sollen, greife zu kurz. Es fehle ein "schlüssiges Gesamtkonzept", an dem die Lehrer früher beteiligt werden sollten.

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Auch diese Kritik weist das Kultusministerium zurück. Gerade weil Verbände, Personalräte, Schulleiter sowie Lehrkräfte in den Prozess dieser für alle Schulen geltenden "Werte-Offensive" eingebunden werden sollen, sei das Vorhaben schon jetzt angekündigt und seien die Schulen aufgefordert worden, Anregungen weiterzugeben. "Es geschieht damit in den nächsten Monaten genau das, was der Philologenverband fordert – nämlich gemeinsam ein Gesamtkonzept zu erarbeiten."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.