Tanzfestival Rhein-Main: Das spanisch-italienische Kollektiv Kor’sia gibt mit "Mont Ventoux" im Staatstheater Wiesbaden dem Mühen um Erkenntnis Ausdruck – allerdings nicht sonderlich aufregend.
Das Tanzfestival Rhein-Main, das am Wochenende zu Ende gegangen ist, hat kurz vor Schluss noch einmal mit einem großen Gastspiel beeindruckt. Im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden erntete "Mont Ventoux" anerkennenden, wenn auch nicht überbordenden Applaus. Das Stück des spanisch-italienischen Kollektivs Kor’sia war mit seiner Vernebelungstaktik wenig anheimelnd.
Die beiden ehemaligen Tänzer, jetzt Choreographen, Mattia Russo und Antonio de Rosa erklommen dazu im Verbund mit der Dramaturgin Agnès López-Rio kurz hintereinander zwei Literaturberge: Bevor sie für das Hessische Staatsballett im Frühjahr 2024 "Kafka" an einer Tankstelle aussetzten, hatte "Mont Ventoux" im Oktober 2023 in Madrid Premiere.
Als Francesco Petrarca seine Besteigung des Mont Ventoux beschrieb in einem Brief, kurz nachdem er im April 1336 wieder unten war, da gab es Amerika noch nicht. Genauer: Er wusste nichts davon. Amerika spielt keine Rolle im getanzten "Mont Ventoux". Aber das Streben in unbekannte Gefilde lässt sich in den Tanz hineinsehen. Petrarca beschrieb Mühen und Methoden, um Erkenntnisse zu gewinnen, lauter Aha-Momente, samt Selbstkritik. Spätere Geschichtsschreibung erkor seine Besteigungsgeschichte zu einem Gründungstext der europäischen Renaissance.
Ein längeres Duett ragt heraus
Die Choreographie führt eine Art Entwicklung vor. Erst wirken die acht Tänzerinnen und Tänzer schwer, kommen langsam von der Stelle, liegen am Boden. Oder die Gruppe wogt wie ein klebriges Gebilde, weicht schwarmartig Schlägen aus der Distanz aus. Einmal scheint sie sich an einer Steigung abzuarbeiten, aber die ist in die Waagerechte gekippt. Häufig auch eilen oder rennen Einzelne mit wehenden Haaren: immer von links nach rechts. Wer eine Weile stehen bleibt, scheint nachzudenken. Aber niemand widersteht lange dem allgemeinen Drive.
Dazwischen gibt es Miniszenen von Umarmungen, Umgarnungen. Oder jemand schleift einen anderen an den Füßen über den Boden. Liegt auf dem oder der anderen. Zieht jemanden an der Hand mit sich fort. Ein längeres Duett ragt heraus, bei dem der Mann die Frau im Drehen anhebt, spiralig hinaufgleiten lässt auf seine Schultern. So erklimmt sie ihren Partner.
Stück über das Wissenwollen
Später werden alle leicht, wie frohgemut, ähneln einem Häuflein Hippies, das erleuchtet herumhopst. Zwar mit vorgefertigten Schritten, aber sie nehmen die Gleichheit locker, scheinen nicht mehr irgendwohin zu müssen oder zu wollen. Bis sie wieder streben. Am Ende findet die Gruppe noch einmal einen Stand oder Zustand. Alle exerzieren unisono gesittet elegantes Tanzen mit weichen Armen, Händen, Knien, wenden auf der Stelle, wenden zurück, nimmermüde, selbstgenügsam. Als sie die Arme zur Seite gerade strecken, könnten sie abheben, fliegen, hätten sie Federn, künstliche Flügel oder einen Fallschirm. Die Mühe, die eigenen Glieder oben zu halten, wird sichtbar. In der Starre. Was machen nun die Seelen, die Petrarca betrachtet haben möchte?
Was hier, teilweise improvisiert, getanzt wird, ist nicht sonderlich aufregend und geschieht im vernebelten Halbdunkel, das Gesichter und Geschlechtsunterscheidungen verhüllt. Die Musik von Alejandro Da Rocha und Raquel Tort Vázquez braust wie kalter Sturm, walzt Töne aus, tackert heftige Rhythmen, schreiende Akkorde, spendiert plötzlich kirchlich anmutenden Frauenchor. Amber Vandenhoecks Bühnenbild des monumentalen Bungalows mit bodentiefen Fenstern aber ist der Clou. Die Gardine drinnen bauscht sich im Wind, sie geht auf und zu und hängt in klassischen Falten. Manchmal zieht ganz hinten ein schroffer Berg auf, bedruckte Leinwand. Was drinnen ist und draußen, hinter Glas oder davor, ist oft schwer zu unterscheiden. Einzelne Tänzer beobachten von hier oder von dort, was drüben ist. Sie spiegeln sich in sie kopierenden Figuren. Einmal gelangt eine Tänzerin, von der Gruppe erhoben, von einer zur anderen Seite, ohne dass sich die Scheiben geöffnet hätten. Dieser Trick ist der wahre Gipfel von "Mont Ventoux", dem Stück über das Wissenwollen. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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