Claire Cunningham: Die schottische Tänzerin und Choreographin Claire Cunningham probt am Frankfurter Mousonturm ihr neues Stück "Songs of the Wayfarer". Premiere hat es während des Tanzfestivals Rhein-Main.
Wo streift der fahrende Gesell herum aus Gustav Mahlers gleichnamigem Liederzyklus von 1885? Oder die Gesellin, heutzutage? Auf einer Seite liegen Metallstangen mit Plastikbesatz kreuz und quer herum, auf der anderen Kissen in Reihe, weiche Formen. Hier ein Dornengestrüpp aus Krücken, dort Steine aus Stoff. Das sei aber nicht das Bühnenbild, sagt die Künstlerin, die im Mousonturm etwas erschöpft auf einem Stuhl hockt, eine Banane pellt und sie dann vor lauter Erläuterungen und Geschichten fast zu essen vergisst. Claire Cunningham macht Mittagspause. Kaffee und Brötchen bringt ihr die Assistentin nach dem Gespräch.
Die Schottin, Jahrgang 1977, mischt in ihren Gruppen- und Solo-Werken ernsten Themen stets eine Prise Humor bei. Und umgekehrt. Sie ist auf eine Weise persönlich auf der Bühne, die nie peinlich oder belehrend wirkt. Sondern hinreißend. Als sei ihr an einem Gespräch gelegen, am wohlwollenden Zuhören, Hinschauen und Verstehen.
Ein Wanderlied
In der Welt der Bühnenperformances hat die ausgebildete Sängerin und Akrobatin einen sehr eigenen Weg beschritten, besser: ihn sich gebahnt. Kein Zufall, dass die stets aufgeschlossene deutsche und internationale Tanzszene sie eingemeindete, dermaßen, dass sie 2018 zur Tanzplattform Deutschland eingeladen und 2021 mit einer der Ehrungen des Deutschen Tanzpreises ausgezeichnet wurde. 2023 bekam sie eine Einstein-Profil-Professur am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin. In Frankfurt gastierte sie 2018 und 2021, 2022 war sie beim Grenzenlos-Kultur-Festival am Staatstheater Mainz zu Gast.
Wie sie dahin gelangt ist, mit Erkenntnissen, die sie gesammelt hat über Wege, deren Ränder und Unebenheiten, über das Hochhinauswollen und Abbiegen, daraus macht sie jetzt ihr Solo, ein Wanderlied, das am 3. November beim Tanzfestival Rhein-Main zum ersten Mal zu sehen ist. Den Titel geben ihm Gustav Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" von 1886, der erste Liederzyklus des Komponisten. Eigentlich hadere sie immer wieder damit, sagt Cunningham und lacht. Sie zählt die Gründe auf, die sie reizten. Erstens das Wandern, das "Fahren". "Ursprünglich ging es mir um die körperliche Aktivität des Navigierens, wie wir uns fortbewegen, vor allem auch mit der gelebten Erfahrung von Behinderung und deren besonderer Art von Aufmerksamkeit." Irgendwie kam der Dreh ins Ganze dazu, der Weg durch die Welt, "wie wir Veränderungen und unerwartete Situationen physisch bewältigen".
Zudem wollte Cunningham sich dem Laufen widmen, das so viele Leute lieben, weil es sie beruhigt oder in Schwung bringt, das sie selbst aber kaum mochte. Doch einmal ging sie mit einem irischen Bergführer auf Tour, noch Jahre später erinnerte er sich an die ungläubigen Blicke anderer Wanderer, als gehöre jemand mit Krücken nicht dahin. Dabei waren es die anderen, die falsch gerüstet waren: mit ihren Klamöttchen im Schnee. Zudem, sagt Cunningham, täten Menschen, die sich auf Skiern, Brettern oder sonst etwas fortbewegten, auch nichts anderes als Behinderte mit ihren Hilfsmitteln. Sie selbst nennt sich Vierfüßlerin, Quadruped.
Und noch etwas: Beim Wandern durch Gelände achteten Freizeitler darauf, wo und worauf sie gehen, sind vorsichtiger als sonst. Das brauchten sie und andere behinderte Menschen immerzu, im Alltag. Auch die Umsicht, mit der eine Route geplant werde, die Zeit und die Energie.
Schließlich diese Lieder: "Im Sängerrepertoire sind sie eine Art Berg", sagt Cunningham. Wer will oder darf den Gipfel erklimmen? Cunningham war jung, kannte die Klassik-Gepflogenheiten nicht, mochte die Mahler-Kompositionen einfach und bestand mit ihnen ihr Examen nach dem Gesangsstudium. Nun also wandere sie zurück zu ihren Anfängen, zur Stimme. Wer einen Liederabend der klassischen Sorte erwarte, werde allerdings überrascht. Bruchstückhaft tauchten die Mahler-Klänge bei ihr auf, sagt sie. Gesellen sich ihr bei.
Eine "love and hate relationship" nennt sie ihre heutige Beziehung zu den Liedern. "Manches finde ich schön, anderes lächerlich." Ein interessanter Kampf. "Wie ich mich in der Welt bewege, ist ja sehr speziell, funktional, genau und muss kontrolliert sein. Ich darf auch keine Energie verschwenden, mich verausgaben." Dazu nun diese ausdrucksvoll romantische Musik? "Was geschieht, wenn sie auf meinen tanzenden Körper trifft?" Wo klirrt es, wie umarmen sie einander?
Mehr Zugänglichkeit für Zuschauer mit Behinderung
Hart und weich: Die großen Kissen am Boden werden doch Teil des Bühnenbildes, das eine Landschaft ergeben soll samt den Zuschauern. Nein, kein Mitmachen, aber sie liebe die Nähe, "proximity", sagt die Performerin. Auch eine Art, das Dazugehören im Theater zu gestalten. Cunningham setzt sich ein für mehr Zugänglichkeit, "accessibility", für behinderte Zuschauer und alle, die bislang meinten, nicht dorthin zu gehören.
Die "Songs of the Wayfarer" sind bis 5. November im Mousonturm zu sehen, anschließend reisen sie nach Berlin, Kortrijk, London. Auf dem Tanzfestival gastiert auch Marc Brew mit "An Accident", das der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui mit ihm über seinen schweren Autounfall schuf. Angel Alves’ Solo "Soft Offer" offeriert ein krankes Nervensystem und den Umgang mit Leistungserwartungen. Auch dies sind, laut Cunningham, "skills", Fähigkeiten, die Menschen haben, die behindert werden. Sie werden Kunst.
Das Festival
Die 9. Ausgabe des Tanzfestivals Rhein-Main bietet vom 31. Oktober bis 17. November ein dichtes Programm aus Uraufführungen und Gastspielen in Frankfurt, Offenbach, Darmstadt und Wiesbaden. Getragen wird es von der Tanzplattform Rhein-Main, einer Kooperation des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm und des Hessischen Staatsballetts mit Sitz an den Staatstheatern in Darmstadt und Wiesbaden. Weitere Informationen sowie die Links zu den einzelnen kartenverkaufenden Spielstätten gibt es im Internet unter tanzfestivalrheinmain.de. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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