"Fantasio": In der Inszenierung von Anna Weber im Staatstheater Wiesbaden gerät Jacques Offenbachs so gut wie unbekannte Operette "Fantasio" zu einem Triumph der Phantasie.
Die Entstehungsgeschichte von Jacques Offenbachs Operette "Fantasio" gehört zu den wundersamsten des Genres. Ausgangspunkt ist das Lustspiel "Fantasio" von Alfred de Musset, das 1834 erschien und von E. T. A. Hoffmanns "Kater Murr" inspiriert ist. Mehr als 30 Jahre später begann Offenbach mit der Vertonung des burlesk romantischen Stoffes, doch ehe es 1870 zur Uraufführung kommen sollte, unterbrach der Deutsch-Französische Krieg die Proben. Als es 1872 endlich zur Premiere kam, wurde Offenbach wegen seiner deutschen Herkunft angefeindet und die Aufführung in Paris zum Fiasko. Der pazifistische Tenor passte nicht zum Zeitgeist. Weitere Versuche in Wien, Prag und Berlin verhalfen "Fantasio" nicht zum Durchbruch, das Werk verschwand von den Bühnen. Schlimmer noch: Offenbach warf die Partitur weg, sie konnte erst vor einigen Jahren rekonstruiert werden.
All dies muss man nicht wissen, um diese Operette, die also fast eine Neuentdeckung ist, zu genießen. Zumal Anna Webers Inszenierung in Wiesbaden die ursprüngliche Handlung, die in einem halb phantastischen Königreich Bayern spielt, ganz aus der Sphäre der Politik herausgeholt hat. In ihrer Überschreibung geht es nicht um die bayerische Königstochter und ihre Heirat mit dem schwerreichen Prinzen von Mantua zwecks Sanierung des Staatshaushalts. Alles dreht sich hier um ein Theater, das pleite ist und von einem Investor gerettet werden soll. Dieser trägt hier den trefflichen Titel "Priceless Investor of Castles Everywhere = PRINCE" (Jack Lee), brabbelt vorzugsweise auf Englisch und hat vor, Theres, die erste Sängerin des Hauses, zu heiraten, das Theater abzureißen und ein Schloss zu errichten. Einige Studenten, an ihrer Spitze der Titelheld Fantasio, belauschen ihn und beschließen, den Plan zu vereiteln. Es kommt zu allerlei Intrigen und Gegenintrigen, die dazu führen, dass die große Abrissbirne am Ende nicht zum Einsatz kommt. Die Liebe zum Theater und zur Kunst triumphiert.
Das Programmheft erläutert instruktiv die Abweichungen vom Originallibretto, sodass man erkennen kann, wie geschickt Anna Weber und Hanna Kneißler aus dem Antikriegsstück Offenbachs eine fulminante Huldigung der Phantasie gemacht haben. Die teilweise recht dämlichen Gesangstexte nimmt man dabei gerne in Kauf, man sollte einfach nicht zu häufig nach oben zu den Übertiteln schauen und sich lieber dem Augen- und auch Ohrenschmaus hingeben. Denn Anna Webers Inszenierung im Großen Haus des Staatstheaters ist ein Füllhorn an witzigen Ideen und immer neuen Einfällen, alles ist ständig in Bewegung, immer wieder entstehen überraschende Bilder. Sina Manthey (Bühne) und die Kostüme von Laura Kirst zeigen alles, was der Fundus hergibt.
Frenetischer Beifall für Ensemble und Regieteam
Gleich zu Beginn wird von einem riesigen Auktionshammer (Michael Birnbaum, der später auch noch als lebensgroßes Mikrofon zu sehen ist) das Inventar versteigert: Mond, Narr, Instrumente und die schöne Sängerin Theres. Zunächst findet alles vor einer Spielwand statt, dann rauschen Bühnenbilder von oben herab, um gleich wieder von anderen überdeckt zu werden. Schwingende Glockenröcke wehen herbei, blumengleich öffnen und schließen sie sich. Der fulminante Chor (Leitung Albert Horne) steht in immer neuen Kostümen auf der Bühne: Ritter, Römer, Wikinger, Tiere, Monster, Engel. Es ist, als habe jemand ein kunterbuntes Papiertheater zum Leben erweckt, die Hauptfiguren Fantasio, Theres, der Theaterkönig, der Prinz und sein Gehilfe erinnern an Spielkarten oder Comicfiguren, es ist ein köstliches Durcheinander, ein Triumph des Kreativen, sinnfrei und berauschend.
Ebenso überraschend wie der visuelle Reiz ist auch die Musik. Natürlich gibt es simple Walzer und rhythmischen Aufgalopp, fröhlich-schwungvolle Tutti-Gesänge und tänzerische Einlagen (selbstredend gibt es auch Balletttänzerinnen). Aber immer wieder auch hinreißende leise Stücke, in denen das Orchester (Leitung Chin-Chao Lin) in Klangfarben badet. Musikalische Höhepunkte sind die zarten Sopran-Mezzosopran-Duette von Theres (Josefine Mindus) und Fantasio (Camille Sherman), die bereits "Hoffmanns Erzählungen" anklingen lassen und das Publikum in Wiesbaden hinreißen. Frenetischer Beifall für Ensemble und Regieteam.
Fantasio Staatstheater Wiesbaden, nächste Vorstellungen am 15., 17. und 23. November © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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