Werk in Baunatal: Ein Stellenabbau bei Volkswagen in Baunatal würde auch andere Unternehmen in der Region in Mitleidenschaft ziehen. Der Einzelhandel bekommt die Verunsicherung schon jetzt zu spüren.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Die Stimmung in der nordhessischen Industrie ist gedrückt, aber besser als in anderen Landesteilen. Diese Erkenntnis aus der jüngsten Konjunkturumfrage der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg überrascht angesichts des befürchteten Stellenabbaus bei Volkswagen, dem größten Arbeitgeber in der Region. Zwar ist noch unklar, was die von der Konzernzentrale in Wolfsburg angekündigten Einschnitte für das VW-Werk in Baunatal bedeuten – doch dort sei "die Verunsicherung groß", sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Arnd Klein-Zirbes.

Dass der Geschäftsklima-Index für die Industrie in seinem Kammerbezirk mit 90 Punkten dennoch deutlich über dem landesweiten Schnitt von 78 liegt, führt Klein-Zirbes auf die vor allem in Marburg starke Pharmabranche und das Kasseler Werk des Rüstungskonzerns Rheinmetall zurück. Das Arzneimittel- und das Rüstungsgeschäft seien relativ konjunkturunabhängig.

Schlechter als im Landesschnitt ist dagegen die Stimmung der Einzelhändler in Nordhessen – sie spüren nach Aussage von Martina Pape, der stellvertretenden Vorsitzenden des IHK-Handelsausschusses, schon jetzt "eine deutliche Kaufzurückhaltung". Bei der Vorstellung der IHK-Konjunkturumfrage am vergangenen Freitag kommentierte sie: "Die negativen Nachrichten über große Arbeitgeber in der Region bleiben nicht ohne Einfluss auf die Verbraucher."

Nicht die erste beunruhigende Nachricht

Kein Wunder: Allein bei VW in Baunatal arbeiten mehr als 15.000 Menschen. IHK-Hauptgeschäftsführer Klein-Zirbes erinnert im Gespräch mit der F.A.Z. daran, dass die Sparpläne des Autobauers nicht die erste beunruhigende Nachricht für die Region sind: Vor rund einem Jahr war bekannt geworden, dass der britische Ölkonzern Harbour Energy einen Großteil der Geschäfte von Wintershall Dea übernehmen und den Unternehmenssitz in Kassel schließen werde. Nach Abschluss der Transaktion vor einigen Wochen teilte Wintershall Dea mit, 300 der zuvor 800 Mitarbeiter in Kassel und Hamburg würden noch "für bis zu zwölf Monate insbesondere Übergangsleistungen für Harbour Energy ausführen", danach würden noch etwa 30 "die mittelfristigen Abwicklungstätigkeiten" übernehmen.

Verhandlungen über einen Stellenabbau laufen auch bei SMA Solar in Niestetal. Der Wechselrichter-Hersteller mit weltweit 4000 Mitarbeitern hat im September ein "Restrukturierungs- und Transformationsprogramm" angekündigt, nachdem der Gewinn im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 60 Prozent eingebrochen war.

Immerhin hat die Krise bei Volkswagen die Politik auf den Plan gerufen: Klein-Zirbes lobt die Auftritte von Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori (SPD) und dessen Staatssekretär Umut Sönmez in Baunatal. Mut machten auch die Bekenntnisse von Mansoori und Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) zum "Autoland Hessen".

Eine Vielzahl kleinerer Zulieferer

Neben dem Opel-Stammsitz in Rüsselsheim und dem VW-Werk in Baunatal, das nach Wolfsburg das zweitgrößte in Deutschland ist, gibt es in Hessen auch eine Produktionsstätte des Lkw-Herstellers Daimler Truck, und zwar in Kassel. Überdies gibt es viele hessische Unternehmen, die hauptsächlich oder teilweise von Zulieferungen an die Fahrzeughersteller leben. Darunter sitzt eine ganze Reihe in Nordhessen, wie ein Blick auf die Website der örtlichen IHK zeigt.

Ein Beispiel ist die Gießerei Fritz Winter in Stadtallendorf mit bundesweit mehr als 4000 Mitarbeitern, die unter anderem Bremsscheiben und Zylinderköpfe herstellt. In Eschwege sitzt die Europazentrale des Hydraulikzylinder-Herstellers Pacoma mit mehr als 200 Mitarbeitern. Der Reifenhersteller Continental produziert in Korbach, wenn auch nicht direkt für das VW-Werk in Baunatal, wo keine kompletten Fahrzeuge, sondern Komponenten gefertigt werden. Daneben gibt es eine Vielzahl kleinerer Zulieferer wie die Werkzeugbau Holzbauer GmbH in Malsfeld, die sowohl Daimler als auch VW zu ihren Kunden zählt.

Gewisse Hoffnung setzt IHK-Hauptgeschäftsführer Klein-Zirbes darauf, dass Baunatal als weltgrößtes Komponentenwerk von Volkswagen für den Konzern von großer Bedeutung sei. Dort werden Getriebe für alle Antriebsformen gefertigt – nicht nur für die Konzernmarken Volkswagen, Seat, Audi, Škoda, Lamborghini und Porsche, sondern auch für Drittkunden. "Die breite Aufstellung des Werks in Baunatal vermindert das Risiko einer Werksschließung ein wenig", sagt dazu der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. "Aber wie alle Werke hierzulande leidet auch Baunatal unter den Problemen des Standorts Deutschland: hohe Personalkosten, marode Brücken, die Zulieferer zwingen, ihre Lkw große Umwege fahren zu lassen, ein Steuersystem, das Investitionen bestraft statt belohnt."

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Diese Probleme seien nicht neu, räumt Dudenhöffer ein. Aber: "Neu ist, dass der europäische Markt schwächelt und die deutschen Autobauer mit ihren E-Autos in China nicht wettbewerbsfähig sind. Die sind in Wolfsburg und anderen deutschen Städten für Chinesen entworfen worden, und das funktioniert nicht."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.