Kein Platz für Unternehmen: Gegenüber ansiedlungswilligen Unternehmen steht Wirtschaftsdezernentin Hinninger blank da. Die Landeshauptstadt büßt für eine seit Jahren verfehlte Politik.

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Wiesbaden ist ein attraktiver Standort für eine große Zahl von Behörden und Dienstleistern, aber auch für Gewerbe und Industrie. Wenn allerdings ein ansiedlungswilliges Unternehmen bei Wirtschaftsdezernentin Christiane Hinninger (Die Grünen) anklopft, um mehr über geeignete Flächen zu erfahren, endet das in einer großen Enttäuschung.

Denn die Schublade mit Flächensteckbriefen verfügbarer Gewerbestandorte ist leer. Die Wirtschaftsdezernentin steht vor den Firmenchefs blank da, obwohl die Nachfrage groß ist. Allein im vergangenen Jahr erreichten das Wiesbadener Wirtschaftsdezernat Anfragen nach Gewerbeflächen in einer Größenordnung von 200 Hektar. "Aber die haben wir nicht", sagt Hinninger. Schon wegen der großen Bedeutung der Gewerbesteuer für den defizitären Etat würde die Stadt zumindest einige dieser Anfragen nur zu gerne positiv bescheiden. Vor allem dann, wenn das Unternehmen zum gewünschten Branchenmix passt. Doch Wiesbaden hat nahezu keinen Platz mehr für neue Unternehmen.

29 Gewerbegebiete in der Stadt

Das geht aus dem Zwischenbericht zur Erstellung eines Gewerbeflächenkatasters hervor, den Hinninger im Wirtschaftsausschuss der Stadt vorgelegt hat. Am kommunalen Standortwettbewerb in der Wirtschaftsregion Rhein-Main kann Wiesbaden mangels Flächen erst gar nicht teilnehmen.

Das neue Gewerbeflächenkonzept soll der Stadtpolitik zumindest die Richtung einer strategischen Entwicklung für die nächsten Jahre weisen. Denn kurzfristig ist keine Besserung in Sicht, weil die Verfahren lange dauern.

Birgitt Wachs von der Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung, die das Wiesbadener Konzept maßgeblich erstellt, spricht von einem wichtigen Steuerungsinstrument. Dass Wiesbaden als Arbeitsplatz von hoher Bedeutung ist, zeigt allein schon die Zunahme der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ihre Zahl stieg von 2013 bis 2022 um rund 17 Prozent auf 147.000. Insgesamt gibt es in Wiesbaden 29 Gewerbegebiete mit einer Gesamtfläche von fast 590 Hektar. Die größten sind der Infraserv-Industriepark Kalle-Albert mit 124 Hektar, der Petersweg mit 105 Hektar und der Untere Zwerchweg mit 42 Hektar.

Freie Plätze gibt es dort allerdings so gut wie nicht. Im Teilgebiet Petersweg-Ost wären zwar noch 25 Hektar verfügbar, doch diese sind dem Vernehmen nach der Landespolizei versprochen. Und die Pläne für ein zweites Gewerbegebiet im Ostfeld neben dem BKA-Campus hat die Stadt vorerst aufgegeben. Schnell verfügbar wären im Sinne einer Nachverdichtung bestehender Gewerbegebiete nach der Analyse von Wachs allenfalls fünf bis sechs Hektar – jedoch auf sieben Gewerbestandorten verstreut.

Die meisten potenziellen Flächen nicht im Eigentum der Stadt

Wachs nennt diese Flächen deshalb "Briefmarken", die den tatsächlichen Bedarf nicht befriedigen können. Einziger Lichtblick sind neun Hektar potentielle Gewerbefläche in Nordenstadt. Der große Nachteil: Sie sind im Besitz mehrerer privater Eigentümer, und diese sind nach Informationen der F.A.Z. nicht bereit, an die Stadt zu verkaufen. Noch gibt es für diese Fläche keinen Bebauungsplan. Sie fällt daher nicht in die Kategorie "aktivierbar". Dazu zählen laut Wachs nur Standorte, die im noch gültigen Flächennutzungsplan von 2010 für Gewerbe ausgewiesen sind, deren Verkehrserschließung gegeben oder leicht möglich ist und die im Eigentum der Stadt sind oder zumindest erworben werden können.

Als "perspektivisch" möglich wurden 71 sogenannte Potenzialflächen mit Einzelgrößen von bis zu fünf Hektar eingestuft. Die meisten davon sind allerdings ebenfalls nicht im Eigentum der Stadt, und die Verkaufsbereitschaft der Besitzer ist nicht geklärt, weshalb auch die "Aktivierbarkeit" als unbekannt vermerkt ist.

Wachs empfiehlt der Stadt deshalb dringend eine "aktive Bodenpolitik". Diese befürwortet auch Dezernentin Hinninger und verweist auf den neuen Flächennutzungsplan, der gerade erarbeitet wird. Dass sich die Lage in den nächsten fünf bis zehn Jahren entspannt, ist nach den Einschätzungen von Hinninger und Wachs aber nicht zu erwarten.

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Im Ausschuss reagierten die Stadtverordneten durchweg ernüchtert, aber auch selbstkritisch. Womöglich habe Wiesbaden zu lange eine verfehlte Politik verfolgt, indem sich die Stadt zu sehr auf den Wohnungsbau konzentriert habe, sagte Petermartin Oschmann (FWG). Reinhard Völker (CDU) sieht die kommunale Wirtschaftsförderung "ad absurdum" geführt und hält die Lage für dramatisch: "Da brennt die Hütte."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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