Der 18. Oktober 2005 begann wie ein ganz gewöhnlicher Abend. Wir hatten Besuch von einem Freund und im Fernseher spielten Bayern München und Juventus Turin um die Champions League, als das Telefon klingelte.

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Ich nahm den Hörer ab und meldete mich mit meinem Namen. Am anderen Ende der Leitung blieb es kurz still. ‚Kann ich Luxemburgisch sprechen?‘, fragte eine Frauenstimme leise. Ich konnte nichts sagen. Ich wusste sofort: Diese Stimme muss meiner Tochter gehören.

Sandrine wurde im April 1983 geboren. Meine damalige Frau Carmen und ich lebten damals in Luxemburg, wo ich aufgewachsen bin. Als Sandrine eineinhalb Jahre alt war, ging die Ehe langsam in die Brüche. Ich bekam ein Jobangebot als Animateur und zog nach Tunesien, nach einem halben Jahr trennte sich Carmen.

Wir trafen uns noch drei, viermal vor Gericht, dann war die Scheidung durch. Carmen stellte keine Ansprüche, sie verlangte keinen Pfennig von mir. Während der Scheidung habe ich Sandrine nicht mehr gesehen. Carmen war zu dem Zeitpunkt schon neu liiert, Sandrine sollte in dem Glauben aufwachsen, dass der neue Partner ihr leiblicher Vater ist. Damals erschien es uns beiden wie die beste Lösung, einfach und unkompliziert. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen Sandrine gegenüber, gleichzeitig war ich völlig unreif.

"Die Leere, die Sandrine in meinem Leben hinterlassen hatte, wurde mit jedem Jahr größer"

In den nächsten Jahren stellte meine Familie immer wieder Fragen über Sandrine, die ich nicht beantworten konnte. Wie geht es deiner Tochter? Weißt du, wo sie ist? Was sie macht? Das wuchs in mir. Ich fragte mich oft, was aus Sandrine geworden war. Meistens war dieser Gedanke mit Sorge verbunden, denn ich hatte damals kein positives Bild von meiner Ex-Frau und befürchtete, Sandrine könnte auf die schiefe Bahn geraten sein.

Mein Leben verlief ansonsten sehr dynamisch: Ich wurde Leiter einer Grafikabteilung und lernte 1995 meine jetzige Frau Karin kennen. Schon bei unserem ersten Date erzählte ich ihr von meiner Tochter. Wir versuchten gemeinsam, Sandrine zu finden – erfolglos. Theoretisch hätte ich auch Carmens Eltern kontaktieren können, die in Galizien wohnten, aber das habe ich mich nicht getraut. Doch die Leere, die Sandrine in meinem Leben hinterlassen hatte, wurde mit jedem Jahr nur größer.

Erst später fand ich heraus, dass meine Ex-Frau sich an unsere Vereinbarung nicht gehalten hatte. Sie erzählte Sandrine schon als Kind, dass ihr leiblicher Vater woanders lebt, vermutlich in Deutschland. Carmen, ihr neuer Partner und Sandrine lebten ein paar Jahre in Luxemburg, dann zogen sie nach Ibiza. Dort verbrachte Sandrine die ersten Jahre ihrer Jugend, bevor sie über Umwege alleine aufs Festland nach Calpe zog. Das Verhältnis zu ihrem Stiefvater war nie gut. Sandrine ertrug nicht, wie er mit ihrer Mutter umging.

"Erst fühlte ich nur Ohnmacht, dann totale Freude"

Als sie 21 war, arbeitete Sandrine als Tierarzthelferin in einer Praxis in Spanien und lernte dort eine Freundin kennen. Sie erzählte ihr von ihrem leiblichen Vater und sie suchten gemeinsam im Internet nach mir. Die beiden waren erfolgreicher als ich, denn sie fanden mich. Es verging noch einige Zeit, bis meine Tochter mutig entschied, mich am Abend des Champions League Spiels anzurufen.

Es war überwältigend, Sandrines Stimme am Telefon zu hören. Erst fühlte ich nur Ohnmacht, dann totale Freude. Wie ein Feuerwerk, das direkt ins Herz geht. Gleichzeitig tat es weh, weil ich so viele Jahre ihres Lebens verpasst habe. Ich hätte ihr so gerne gezeigt, wie man auf Bäume klettert, wie man im Meer gegen die Wellen kämpft, wie man Fußball spielt und wie man kocht. Das schmerzt mich bis heute.

Sandrine sprach am Telefon über ihr Leben in Spanien, über die Krebserkrankung ihrer Mutter, erzählte von ihrer Suche nach mir. Die meisten Fragen stellte sie zu Carmen. ‚Wie war die Beziehung zu meiner Mutter? Wo habt ihr gelebt? Warum hast du uns verlassen?‘

Ich wollte noch am selben Abend einen Flug nach Spanien buchen, egal, zu welchem Preis. Meine Frau bremste mich, wir guckten gemeinsam nach Flügen, nahmen Urlaub und landeten elf Tage nach unserem ersten Telefonat in Alicante.

"Sandrine verstellt sich nie – das schätze ich unglaublich an ihr"

In diesen elf Tagen davor schlief ich kaum, weinte viel und machte mir Vorwürfe. Dazu kamen unendlich viele Fragen: Wie sieht Sandrine heute aus? Wie wird sie reagieren, wenn sie mich sieht? Was, wenn sie mich nicht mag und wir nichts miteinander anfangen können? Um mich abzulenken, suchte ich nach alten Fotos. Ich wollte ihr zeigen, wie mein Leben gewesen war, wollte ihr etwas von mir geben.

Als wir endlich in Köln/Bonn auf unseren Flieger warteten, war ich so nervös, dass ich mir zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder eine Zigarette anzündete. Am Flughafen Alicante lief ich dann panisch durch die Menschenmengen und guckte in fremde Gesichter, bis meine Frau Sandrines Namen rief. Sie hatte die Familienähnlichkeit erkannt. Ihr Gesicht, ihr Gang erinnerten sie an meine Schwester.

Als ich Sandrine endlich in die Arme schloss, weinten wir beide. Am Abend setzten wir uns gemeinsam mit Sandrines damaligem Freund in eine Strandbar und betranken uns. An diesem ersten gemeinsamen Abend redeten wir nur über Musik, Essen und Kleidung, ich meine, ich habe sogar ein paar Zaubertricks aufgeführt. Doch so fanden wir in der Musik unsere ersten Gemeinsamkeiten. Wir waren uns sofort vertraut. Es war fast, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren.

In den Tagen danach gingen wir spazieren, saßen in Cafés, redeten stundenlang und ich lernte meine Tochter besser kennen. Sie ist sehr temperamentvoll, zielstrebig und direkt. Sandrine verstellt sich nie – das schätze ich unglaublich an ihr.

"Jeden Tag mit Papa angesprochen zu werden, ist unbeschreiblich"

Nach unserem Besuch in Spanien verging kein Tag, an dem wir nicht telefonierten oder chatteten. Wir besuchten uns regelmäßig und nach dem Tod ihrer Mutter feierte Sandrine jedes Weihnachten bei uns.

Carmen starb zwei Jahre nach Sandrines Anruf. Kurz vorher konnten Carmen und ich ein letztes Mal miteinander telefonieren und uns voneinander verabschieden. Es war ein befreiendes Gespräch und auch wohltuend, denn wir konnten über unsere Tochter sprechen.

Karin und ich überlegten, nach Spanien zu ziehen, denn wir wollten in der Nähe meiner Tochter sein. Wir sprachen mit Sandrine über diese Idee. Dann sagte sie: Was haltet ihr davon, wenn ich nach Köln komme? Wir waren natürlich begeistert. Im Jahr 2012 suchte sich Sandrine einen Job in Düsseldorf und zog in Karins früheres Nähzimmer ein. Es war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Jeden Tag mit Papa angesprochen zu werden, ist unbeschreiblich. Abends kochten wir drei zusammen, wir gingen zusammen aus, stellten sie meiner und Karins Familien vor und erkundeten gemeinsam zum Beispiel das Siebengebirge.

"Meinen Enkel aufwachsen zu sehen, ist sensationell"

Eineinhalb Jahre später zog Sandrine nach Düsseldorf. Sie hatte sich verliebt. Es tat weh, sie ein zweites Mal gehen zu lassen, auch wenn ich beim ersten Mal ja selber schuld war. Ich hatte große Angst davor, sie erneut zu verlieren, nachdem wir uns gerade erst wiedergefunden hatten.

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Heute sind wir Großeltern eines achtjährigen Jungen – dem schönsten und klügsten Enkel überhaupt. Ihn aufwachsen zu sehen, ist sensationell. Zu Weihnachten kommen Sandrine und ihr Sohn für einige Tage zu uns, sie wollen bis Neujahr bleiben.

Manchmal braucht es nur einen Moment, um ein Leben zu verändern. Sandrine bedeutet meine Welt. Ich bin unglaublich stolz auf sie. Zusammen mit Karin ist sie das Wichtigste, was ich habe.  © Kölner Stadt-Anzeiger

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