Fast jeder Fünfte in Nordrhein-Westfalen relativiert oder leugnet den Holocaust, und zwölf Prozent der Leute glauben, dass die jüdische Religion grundsätzlich Gewalt gegen Kinder legitimiert.
Das sind zwei Ergebnisse der Studie "Antisemitismus der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024". Abraham Lehrer, Vorstandmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, nannte sie am Freitag exemplarisch für die weitverbreitete Judenfeindlichkeit.
Lehrer: "Was haben wir falsch gemacht?"
Anlass war die Gedenkveranstaltung zum 86. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Spätestens in jener Nacht "konnte, ja sollte jeder Bürger wissen, was die Nazis vorhatten", sagte Lehrer. An die Zahlen der Studie knüpfte er die Frage: "Was haben wir falsch gemacht?" Er halte daran fest, dass die Bildung an Schulen von großer Bedeutung sei. Doch reichten die Anstrengungen aus? Welche Wirkung hätten die Fahrten zu ehemaligen Konzentrationslagern, die Verlegung von Stolpersteinen, die ökumenischen Gottesdienste?
Als einen Grund für die Anfälligkeit für Extremismus und Rassismus stellte Lehrer heraus, die Demokratie hierzulande zeige sich aktuell "von ihrer schlechten, schwachen oder nicht wirksamen Seite". Die Enttäuschung über die etablierten Parteien wachse, und der Umgang der Politiker untereinander sei davon geprägt, dass "jeder jeden schlechtmacht und desavouiert".
Der Eindruck sei entstanden, dass "die eigene Position, das eigene Manifest wichtiger ist als das Wohl des Ganzen." Als Beispiel nannte Lehrer die Entstehung der Resolution "Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken", die der Bundestag nun verabschiedet hat. Ein dreiviertel Jahr hätten die Parteien dafür gebraucht, sich auf einen gemeinsamen Wortlaut zu verständigen, kritisierte er. "Das ist ein Armutszeugnis für unseren Staat." Die Mitglieder der Gemeinde seien enttäuscht.
Enttäuscht seien sie auch davon, dass es an "Zeichen der Empathie, der Sympathie der Mehrheitsgesellschaft" angesichts der antisemitischen Anfeindungen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel fehle. "Kritik an der jetzigen Regierung des Staates Israel ist absolut und völlig legitim", unterstrich Lehrer. Doch das Existenzrecht des Staates Israel infrage zu stellen, ihn zu boykottieren, zu isolieren und zu sanktionieren, sei antisemitisch. Es komme einer "Täter-Opfer-Umkehr" gleich.
In der Gemeinde herrsche eine "Wahnsinnsunruhe" und Unsicherheit, "viele haben Angst". Auch wenn er kein "Patentrezept" habe, sei klar: "Wir müssen etwas tun." Sonst "verlieren wir weitere Generationen an die Rattenfänger".
"Erinnern heißt handeln: Für ein besseres Morgen" lautete diesmal das Motto der Veranstaltung, die die Synagogen-Gemeinde Köln traditionell zusammen mit der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ausrichtet. Zum Programm gehörten Beiträge von Schülern und musikalische Darbietungen.
Auch Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Gesellschaft, betonte, wer die Politik der israelischen Regierung kritisiere, sei darum noch kein Antisemit. Wohl aber diejenigen, die schon gleich nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 "die antisemitische Gewalt verharmlosten oder gar als ‚Widerstand‘ glorifizierten". Prinzipiell gelte: "Wer meint, in Deutschland lebende Juden für die Politik des israelischen Staates haftbar machen zu können, redet und handelt antisemitisch."
Wolter: "Jüdisches Leben soll in Köln sicher gedeihen"
Im Besonderen warnte Wilhelm vor der AfD, vor den "Neonazis um Höcke und Co." Er versicherte: "Wir stehen ohne Wenn und Aber an der Seite unserer jüdischen Freunde hier in Köln und in der Region." Bürgermeister Anderas Wolter bekräftigte: "Jüdisches Leben soll in Köln frei, sicher und sichtbar gedeihen."
Vor dem Gedenken in der Synagoge waren in der Südstadt, vor dem Haus Maternusstraße 5, drei weitere Stolpersteine verlegt worden, auf Initiative des jüdischen Karnevalsvereins "Kölsche Kippa Köpp". Die Steine erinnern an Salomon und Emma Guggenheimer, die 1933 in die USA flohen, und ihre Tochter Frieda Ruth Guggenheimer, die ihnen 1936 folgte.
Salomon Guggenheimer (1881–1972) , genannt Sally, war Mitglied des Vereins "Kleiner Kölner Klub – K. K. K." dem Vorgänger der "Kölschen Kippa Köpp". Salomon und Emma Guggenheimer (1887–1950) betrieben eine Zeitlang zwei Schuhgeschäfte und wohnten zunächst in der Lothringer Straße, wo Tochter Frieda Ruth (1910–2004) und Sohn Hans Jakob (1912–1968), der bereits 1929 auswanderte, geboren wurden. Später zog die Familie in die Maternusstraße um. An ihre Geschichte erinnerte Volker Scholz-Goldenberg vom Vorstand der "Kölschen Kippa Köpp". Auch Aaron Knappstein, Präsident des Vereins, nahm an der Verlegung teil. © Kölner Stadt-Anzeiger
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