Dr. Stefan Hößl (44) ist bei der Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region als Studienleiter für die Fachbereiche Politik, Gesellschaft und Medien zuständig.

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Mit Alexa Jansen sprach er über die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die Ängste von jüdischen Mitbürgern sowie die Rolle der Kirche und zeigt Wege auf, was jeder Einzelne für die Stärkung der demokratischen Grundwerte tun kann.

Wie kam es zu Ihrer wissenschaftlichen/beruflichen Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus?

Dr. Stefan Hößl: Schon während meines Studiums in Hessen war die Auseinandersetzung mit antidemokratischen Phänomenen ganz zentral. Ersten Beschäftigungen mit den Feldern "NS-Geschichte" und Rechtsextremismus" folgten recht schnell jene mit dem Antisemitismus, als für mich erkennbar wurde, welch große Virulenz er auch in der Gegenwart hat.

Seitdem sind fast 20 Jahre vergangen, in denen ich intensiv zu Antisemitismus und zur Theorie und Praxis der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit gearbeitet habe. Mein Blick ist dabei aber immer "über den Tellerrand" hinausgegangen – insofern habe ich mich auch lange mit Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit und darüber hinaus auch mit Heterogenität und Diversität in der pluralen Gesellschaft auseinandergesetzt.

In Hessen, NRW und Tel Aviv habe ich bis 2019 an meiner Doktorarbeit geschrieben, in der ich mit einer rassismuskritisch informierten Perspektive zu "Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen" geforscht habe. Nach der Uni ging es dann von der Theorie in die Praxis – von 2019 bis 2024 war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-DOK in Köln und seit April des letzten Jahres habe ich jetzt die Stelle des Studienleiters politische Bildung bei der Melanchthon-Akademie inne.

Demokratiebezogene Themen sind hier natürlich weiterhin zentraler Kern meiner Arbeit. Im Themenfeld "Antisemitismus" biete ich kostenfreie Workshops für kleine Gruppen Interessierter in evangelischen Gemeinden in Köln und Region an – und das nicht zeitlich begrenzt, denn es ist ganz klar, dass das Engagement gegen Antisemitismus ein kontinuierliches sein muss. Wenngleich ich es mir zutiefst wünsche: Leider ist es höchst unwahrscheinlich, dass Antisemitismus demnächst einfach so verschwinden wird.

Wie äußert sich Ihrer Meinung nach aktuell der Antisemitismus?

Meine Meinung ist hier nicht bedeutend. Es gibt seit vielen Jahren sehr differenzierte Forschung in diesem Feld, die deutlich macht, dass antisemitische Bilder, die um Fiktionen davon kreisen, wie Jüdinnen und Juden vermeintlich sind und die nichts mit realen Jüdinnen und Juden zu tun haben, in allen Teilen der Gesellschaft verbreitet sind.

Nach 1945, dem Ende der Shoah, und nach 1948, der Gründung des Staates Israel, haben sich jedoch Formen einer Umwegkommunikation etabliert, die im Endeffekt die alten Bilder des Antisemitismus transportieren, aber nicht mehr auf "die Juden" abzielen, sondern über Umwege kommuniziert werden. Das können Chiffren für Jüdisches sein; die dominante Artikulationsform in der Gegenwart ist jedoch die israelbezogene.

Wichtig ist, dass Antisemitismus nach 1945 nie weg war, sondern dass es sich hier um Kontinuitäten handelt. Die enorme Quantität und auch die gewaltbezogene Qualität antisemitischer Vorfälle im Nachgang zum 7. Oktober 2023, dem Tag des terroristischen Überfalls von Hamas auf Israel, hat aber hierzulande alle schockiert, die intensiver zu Antisemitismus arbeiten. Die dokumentierten Vorfälle haben stark zugenommen.

Fatal ist das natürlich, wenn die überaus reale Bedrohungslage von Jüdinnen und Juden betrachtet wird, denn jeder Antisemitismus – auch der israelbezogene – zielt im Letzten auf die Vernichtung alles Jüdischen in der Welt ab. 80 Jahre nach der Shoah stellen sich viele jüdische Eltern auch in Köln die Frage, wie sie es schaffen können, die jüdische Identität ihrer Kinder in der Schule zu de-thematisieren, um die Kinder vor antisemitischen Adressierungen zu schützen.

Was kann jeder Einzelne – gerade auch im Lokalen vor Ort – gegen diese Entwicklung tun?

Insbesondere im Lokalen und direkt vor Ort kann sehr viel getan werden – und das erfordert nicht immer ein allumfassendes Wissen über jede Facette der Themen, die mit Antisemitismus verbunden sind. Wesentlich ist, dass Nichts-Tun keine Lösung ist. Wenn das klar ist, eröffnet sich ein weites Feld dessen, was man unternehmen kann – laut werden, Vorgesetzte informieren, die Polizei verständigen, ein klärendes Gespräch suchen oder sich von Institutionen mit Expertise – z. B. beim NS-DOK in Köln oder SABRA (Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus) in Düsseldorf – vertrauensvoll beraten lassen.

Aus eigenen Interviews mit jüdischen Kölnerinnen und Kölnern weiß ich, dass besonders schmerzhaft für sie war, wenn sie mit dem Antisemitismus alleingelassen wurden. Insofern gilt: Betroffenen mit Empathie begegnen, zuhören, Unterstützung anbieten, solidarisch sein – eigentlich sollte das doch ganz normal und einfach sein…

Wo sehen Sie die aktuelle gesellschaftspolitische Aufgabe der Kirchen, insbesondere der Evangelischen?

Demokratie ist dauerhaft in Gefahr – und hier hat Kirche mit ihren Wertorientierungen natürlich auch eine Selbstverpflichtung und gesellschaftspolitische Aufgabe. Gegenüber antidemokratischen Bedrohungen kann und darf sie nicht neutral sein. Allein mit Blick auf Antisemitismus bspw. hat die EKD, die Evangelische Kirche in Deutschland, ganz klar formuliert: "Der Widerspruch gegen Antisemitismus ist nicht nur die Sache einiger weniger, sondern eine Verantwortung aller Christinnen und Christen".

Klar – um Antisemitismus widersprechen zu können, ist es nötig ihn auch zu erkennen, was vielen Menschen insbesondere dann schwerfällt, wenn er sich im Israelbezug äußert. Und auch wenn man Antisemitismus erkennt, ist damit nicht klar, wie Widerspruch konkret aussehen kann. Letzteres kann in den Workshops der Melanchthon-Akademie eingeübt werden. Die Positionierung der EKD in diesem Themenfeld steht jedoch unabhängig davon fest.

Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für die Stärkung der demokratischen Grundwerte?

Da ist vieles wichtig und nur eine Antwort auf die Frage ist sicher verkürzt, aber ich möchte recht persönlich darauf eingehen: generell empfinde ich eine Kultur für Demokratie fatal, in der sich Kommunikation nur auf das Senden von Ich-Botschaften beschränkt, wie ich es zunehmend wahrnehme. Für gelingende Kommunikation, die für ein konstruktives Miteinander in der pluralen Demokratie essenziell ist, sind Zuhören und Empathie notwendige Voraussetzungen. Aber man muss und sollte auch nicht mit allen kommunizieren – da, wo Grundwerte dieser Gesellschaft bedroht oder mit Füßen getreten werden, dürfen wir nie neutral sein. Da gilt es, klare Grenzen zu ziehen.

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Der Eintritt zu dem Vortrag von Dr. Stefan Hößl am Mittwoch, 5. Februar, 19.30 Uhr, in der Evangelischen Kirche Frechen, Hauptstraße 209, ist frei. Die Veranstaltung findet im Rahmen des Stiftunsforums der Stiftung "Türen zum Nächsten" der Evangelischen Kirchengemeinde Frechen statt. Nach dem Vortrag gibt es die Gelegenheit zur Diskussion und zum Austausch. (aj)  © Kölner Stadt-Anzeiger

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