Auf dem Wohnzimmertisch hat Gerhard Richter alles ausgebreitet, was von dem Leben seines Vaters geblieben ist.
"Karl Otto
Karl Richter hatte die Fotos säuberlich beschriftet, eher wie Fotoalben einer Klassenfahrt als Erinnerungen an einen grausamen Krieg. "Beim Sport", "Anmarsch zur Parade", "ich selbst in Galla", "in den ersten Wochen". Manche Bilder klebte er ohne Erklärung auf die Seiten, Fotos, in denen Menschen in Zivilkleidung aus einem Zugwaggon steigen. Sein Logbuch mit den Einsatzorten seiner Einheit ist so voll, dass am unteren Rand auffaltbare Seiten hinzugeklebt wurden. Polizeibataillon 304 steht dort. Der Kommandeur der Einheit galt als besonders rigoroser Judenhasser, die Opferzahlen seines Bataillons sind hoch. Für Gerhard Richter liegen in der Kiste Belege für eine Vermutung, die ihn schon einige Jahre umtrieb, bevor er sie aus dem Keller hochholte: Dass sein Vater ein Mörder war.
"Mir ging in einer Ausstellung vom NS-Dokumentationszentrum Köln ein Licht auf. ‚Massentötungen im Osten‘ hieß sie, es ging um die Gräueltaten, die Zivilisten in der damaligen Sowjetunion angetan wurden. Ich werde den Moment nie vergessen, in dem ich vor einer der Infotafeln stand und las: ‚Erschießungen im Osten wurden vor allem durch Polizeibataillone durchgeführt.‘ Denn ich wusste: Mein Vater war während dem Krieg Polizist in einem Bataillon.
Mein voller Name ist Gerhard Gottfried Richter. Auf den zweiten Vornamen hat mein Vater bestanden, er benannte mich nach seinem Bruder, der in der SS-Leibstandarte Adolf Hitler tätig war und gegen Ende des Krieges fiel. Ich bin froh, dass Gottfried nicht mein erster Vorname ist.
An meinen Vater habe ich nur wenige Erinnerungen. Nach dem Krieg arbeitete er als Dorfpolizist, zunächst im Schwarzwald, danach in einer Gemeinde am Rand der Schwäbischen Alb. Im Ort galt er als sehr männlicher Typ, einer, der Recht und Ordnung auch mal mit der Faust durchsetzte. Als Kind musste ich mich gelegentlich, wenn auch selten, auf den Tisch legen, die Hose runterziehen und er holte den Gürtel raus. Abends ging er meist in die Kneipe und kam nachts betrunken nach Hause. Als ich acht Jahre alt war, starb mein Vater im Alter von 46 Jahren an akutem Leberversagen.
"Welche Aufgaben Polizeieinheiten im Krieg übernommen hatten, habe ich blauäugig verdrängt"
Nach seinem Tod spielte er in meinem Leben keine Rolle mehr. Woodstock und Popkultur prägten meine Jugend. Als ich meine Haare lang wachsen ließ, sagte meine Mutter nur: Wenn das der Vater noch erlebt hätte, dann hätte es Mord und Totschlag gegeben. So gesehen war ich froh, dass er nicht mehr da war.
Das änderte sich viele Jahre später, als mir in der Therapie gesagt wurde: Sie müssen ihren Vater neu kennenlernen. Also besetzte ich das Thema Vater positiv, versuchte, ihn als durchsetzungsstarken, geselligen Mann zu sehen, der im Dorf viel Respekt und Beliebtheit genoss. Ich stellte sogar ein Bild von ihm auf. Und trotzdem: Als mir meine Mutter die Kiste mit den Kriegserinnerungen meines Vaters gab, warf ich nur einen flüchtigen Blick hinein.
Ich wusste, dass mein Vater im Krieg gekämpft hat, auch, dass er NSDAP-Mitglied war. Doch welche Aufgaben Polizeieinheiten im Krieg übernommen hatten, habe ich blauäugig verdrängt. Bis ich die Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum besuchte und sich mein Bild von meinem Vater erneut änderte.
Theoretisch hätte ich anschließend die Kiste meines Vaters aus dem Keller holen können. Ich tat es nicht, arrangierte mich mit dem Gedanken, dass mein Vater zu den Tätern gehört hatte. Mit mir selbst habe ich das gar nicht in Verbindung gebracht. Schließlich halte ich mich für einen anständigen Menschen. Ich wollte die Kiste nicht hochholen.
Einige Jahre später, ich war gerade im Ruhestand, lief abends die Neuverfilmung zur Wannseekonferenz im ZDF. Der Film hat mich tief erschüttert. In einer Szene kommt ein Kommandant aus Osteuropa in den Raum und sagt: Meine Region ist jetzt judenfrei, die Truppen haben gute Arbeit geleistet. Und mir war bewusst: Mein Vater war bei diesen Truppen. Einen Tag später stieg ich in den Keller und holte die Kiste hoch.
"Dass mein Vater die Teilnahme an Erschießungen verweigert hätte, glaube ich nicht"
Mein Vater Karl Richter wurde im Jahr 1915 in Sachsen geboren. Nach der Schule machte er zuerst eine Schreinerlehre, anschließend meldete er sich zum Polizeidienst. Mit Kriegsausbruch wurde er dem Polizeibataillon 304 zugeteilt.
Die Frage, ob mein Vater Überzeugungstäter war oder sich zum Mitmachen gedrängt fühlte, treibt mich bis heute um. Was aber feststeht: Als Hitler 1933 an die Macht kam, war er 18 Jahre alt. Mein Vater musste nie die Hitlerjugend oder ähnlich indoktrinierende Strukturen durchlaufen, er war schon erwachsen. Deshalb lasse ich keine Entschuldigung gelten.
Von 1940 bis 1941, fast neun Monate, war mein Vater als Bewacher im Warschauer Ghetto eingesetzt. Danach ändern sich die Einsatzorte alle paar Tage, die meisten waren in der Ukraine. ‚Bandengefecht‘, hieß das offiziell. Unfassbar. Denn die springenden Einsatzorte sind laut NS-Dokumentationszentrum ein Anzeichen dafür, dass er an Massenerschießungen teilgenommen hat. Seine Einheit ist für die Ermordung von schätzungsweise 17.000 Menschen verantwortlich, die meisten von ihnen Juden. Dass mein Vater die Teilnahme an Erschießungen verweigert hätte, glaube ich nicht. Und allein anhand der Statistik muss ich davon ausgehen: Mein Vater war ein Massenmörder.
Gegen Ende des Krieges kam mein Vater wegen einer Schussverletzung in ein Lazarett in Süddeutschland und geriet danach für zwei Monate in französische Gefangenschaft. Anschließend kehrte er nicht zurück zu seiner Familie nach Sachsen, sondern blieb in Baden-Württemberg. Vermutlich hatte das Kalkül – in der DDR wurden 90 Angehörige seines Bataillons zum Tode verurteilt. In Baden-Württemberg reichte man meinem Vater dagegen eine Entnazifizierungsurkunde, auf der angekreuzt wurde: Mitläufer. Stempel drauf, Unterschrift, ein Jahr nach dem Krieg arbeitete er wieder als Polizist.
Ich glaube nicht, dass mein Vater bereut hat. Er kam aus einer stramm rechten Familie. Als sich sein Bruder in Sachsen nach dem Krieg der SED anschloss, bezeichnete er ihn in Briefen als Fähnchen im Wind. Daraus schließe ich, dass er seine Einstellung nicht geändert hatte. Als ich klein war, kamen häufig Männer bei uns vorbei, mit denen mein Vater dann ein paar Tage wegfuhr. Der Papa ist mit seinen Kameraden aus dem Krieg unterwegs, sagte meine Mutter zu mir. Mein Halbbruder war 13 Jahre älter als ich. Sei bloß froh, dass du den Vater nicht länger erlebt hast, sagte er mal zu mir. Auch meine Mutter meinte: Dein Vater war kein Guter.
"Heute bin ich erleichtert, dass ich ihm nicht ähnlich sehe"
Ein paar Jahre nach meinem Umzug nach Köln fand meine Mutter einen neuen Lebenspartner. Ich mochte ihn sehr und kannte ihn als lieben, herzensguten Menschen. Doch ich weiß noch genau, wie er eines Morgens aus dem Bad kam, sich über die nassen Haare wischte und ich in der Achselhöhle etwas kleines, schwarzes sah. Er hatte ein Blutgruppen-Tattoo. War der Gottlob bei der SS?, fragte ich meine Mutter schockiert. Wenn du noch eine Frage stellst, sagte sie, reist du sofort ab. Also sagte ich nichts. Heute bereue ich sehr, dass ich klein beigegeben habe. Eher hätte ich mich von meiner Mutter rauswerfen lassen müssen. Ich wünschte auch, ich hätte meinen Vater nach den Verbrechen seines Bataillons fragen können.
Nachdem ich die Kiste meines Vaters geöffnet hatte, vereinbarte ich einen Termin beim NS-Dokumentationszentrum. Ein Mitarbeiter reichte mir Forschungsergebnisse über die Verbrechen des Polizeibataillons 304 und ging mit mir die Unterlagen meines Vaters durch. In einem abschließenden Gespräch fragte er mich: Was macht das jetzt eigentlich mit Ihnen? Ich dachte damals lange darüber nach. Mein Vater hat auf mein eigenes Leben keinen großen Einfluss, auch, weil er so früh gestorben ist. Ich war einfach froh, endlich die Wahrheit zu kennen und distanzierte mich innerlich von meinem Vater. Heute bin ich erleichtert, dass ich keine große Ähnlichkeit zu ihm aufweise.
Ich bin in eine gute Zeit hineingeboren: Die ersten 50 Jahre meines Lebens verbrachte ich in der Gewissheit, dass unsere Demokratie für immer bleibt. Heute bin ich davon nicht mehr überzeugt. Vieles gerät ins Wanken, in Europa macht mir der Aufstieg rechter Parteien große Sorgen. Und auf der ganzen Welt zeigt sich wieder, welche Grauen totalitäre Regime anrichten können. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen, und doch wiederholen sich einige Aspekte schon jetzt. Auch in dem Wissen, was ein Vater getan hat, finde ich Gedenktage wie den 27. Januar unglaublich wichtig. Die Verbrechen des NS-Regimes dürfen nie in Vergessenheit geraten.
Wenn ich früher schwarz-weiße Fotos von Massenerschießungen an der Grube gesehen habe, dachte ich immer: Wie kann man nur? Heute denke ich zusätzlich: Mein Vater könnte auf so einem Bild sein." © Kölner Stadt-Anzeiger
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