Mehr als ein Dutzend Sprengstoffanschläge, die auch in der Kölner Innenstadt Angst und Schrecken verbreiteten, drei Geiselnahmen und mehrere versuchte Attentate.
Ein Drogenkrieg zwischen Köln, Hürth, Duisburg und Düsseldorf mit 30 Beschuldigten, 16 davon inhaftiert, beschäftigt seit Monaten die 80-köpfige Ermittlungsgruppe "Sattla" (Arabisch für Haschisch) bei der Kölner Polizei.
Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung: Die niederländische Drogenmafia, von den Medien im Nachbarland wegen der marokkanischen Herkunft vieler Mitglieder "Mocro-Mafia" genannt. Schon früh berichtete der "Kölner Stadt-Anzeiger" jedoch von den Taten einer Bande aus Köln-Kalk. Neueste Erkenntnisse zeigen: Der Kalker Drogenboss Samir A. (alle Namen geändert) soll die Fäden in der brutalen Auseinandersetzung gezogen haben, die mit dem Diebstahl von 350 Kilogramm Cannabis im Sommer ihren Anfang genommen hatte.
Die "Mocro-Mafia", von der der Stoff ursprünglich stammte, soll er zur Unterstützung angeheuert haben. So ist auch der am vergangenen Freitag festgenommene Mehmet C. Mitglied der Kalker Drogenbande. Der 25-Jährige steht im Verdacht, an einer Geiselnahme in Hürth am 25. Juni beteiligt gewesen zu sein. In einer Halle in einem Gewerbegebiet hatten drei Abgesandte eines niederländischen Drogenkartells fünf Männer an Stühlen gefesselt und unter Drohungen gefoltert.
Sie wollten herausfinden, wer hinter dem Raub der Drogen aus eben dieser Halle beteiligt gewesen war. Zwei Mitglieder der Kölner Bande sahen beim Eintreffen an der Halle die Folterer und ihre Opfer, die sich in Lebensgefahr zu befinden schienen, durch einen Spalt, riefen die Polizei und warteten auf diese vor dem Tor zur Lagerhalle. Einer von ihnen war Mehmet C. Ihn und seinen Komplizen identifizierten die Polizisten als Tippgeber und ließen sie gehen.
Samir A. heuerte Gangster an, um gestohlene Ware wiederzubekommen
Während der Komplize nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeiger" in den Zeugenschutz genommen wurde, verhafteten Spezialeinsatzkräfte der Polizei nun Mehmet C.. Weitere Nachforschungen hatten ergeben, dass er an der Gefangennahme der fünf Männer in der Lagerhalle beteiligt gewesen sein soll. So soll er laut Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer Informationen und Befehle via Handy in Hürth an die Hintermänner weitergegeben haben. Sein Medienanwalt weist dies zurück. "Die Strafverteidigung prüft die Vorwürfe momentan. Der Mandant behält sich vor, zu einem späteren Zeitpunkt weitergehende Aussagen zu machen."
Bei den Durchsuchungen in der vorigen Woche wanderte auch der 24-jährige Mohammed L. in Untersuchungshaft. Sein Kiosk wurde ebenfalls auf den Kopf gestellt. Über den Laden soll er für die Kalker Gang die Finanzen gesteuert haben. Auch soll er die Lieferung von 700 Kilogramm Cannabis des holländischen Kartells abgewickelt haben, von der die Hälfte geraubt worden war.
Der Kalker Drogenboss der beiden Inhaftierten, Samir A., gilt derweil als Schlüsselfigur in der Rauschgiftfehde. Demnach soll der 22-Jährige den Cannabis-Deal mit der "Mocro-Mafia" eingefädelt haben. Nachdem ein Teil des Stoffes gestohlen wurde, soll er bei seinen Kontaktleuten jenseits der Grenze die Gangster angeheuert haben, um hierzulande die geraubte Ware wiederzubeschaffen – vermutlich auch durch Anschläge.
Geiselnahme in Rodenkirchen auch im Zusammenhang mit Cannabisraub
Im Oktober wurde der flüchtige Kölner auf dem französischen Flughafen Paris-Orly festgesetzt. "Derzeit läuft noch das Auslieferungsverfahren", berichtet Behördensprecher Bremer weiter, "der Beschuldigte hat seiner Überstellung widersprochen, nun muss ein Gericht über den weiteren Verfahrensgang entscheiden". Nach den Erkenntnissen der EG "Sattla" soll Samir A. bei der Suche nach den gestohlenen Drogen auch fortan eng mit dem niederländischen Drogennetzwerk zusammengearbeitet haben.
So etwa bei der Geiselnahme zweier mutmaßlicher Drogenhändler am 4. Juli in Bochum. Die Entführer vermuteten, dass der gekidnappte Mann und seine Freundin hinter dem Cannabisraub steckten. Seine Familie, so Erkenntnisse der Kriminalpolizei, soll im Drogenhandel im Ruhrgebiet mitmischen. Das Paar wurde in eine Villa nach Köln-Rodenkirchen gebracht und dort im Keller mit Pistolen bedroht und geschlagen. "Geld oder Tod", brüllten die niederländischen Auftragsverbrecher. Als eigentliche Folterer sollen allerdings mindestens fünf Handlanger des Kalker Drogenbosses Samir A. agiert haben.
Ein Spezialeinsatzkommando befreite die Geiseln tags darauf, erneut nach einem Hinweis aus dem inneren Zirkel der Gruppe. Vergangenen Freitag durchsuchten die Ermittler zudem die Wohnräume einer 19-jährigen Frau in Kalk. Sie steht nach Informationen dieser Zeitung im Verdacht, bei der Geiselnahme geholfen zu haben.
Joint Venture zwischen Kalk und Amsterdam
Längst ist die Kölner Unterwelt in Kalk und anderen rechtsrheinischen Stadtbezirken auf dem Vormarsch. Das zeigte sich auch am 27. Juni, als ein Notruf bei der Polizei einging. Demnach wurde eine Person in einem Wagen vor einem Kalker Restaurant verprügelt. Die Einsatzkräfte untersuchten den Kombi. Das Opfer war geflohen. Im Fußraum stellten die Ermittler allerdings eine Maschinenpistole mit zwei Magazinen sicher. Im Kofferraum fanden sich weitere Magazine und einen Schalldämpfer. Mieter des Wagens war ein Mitglied aus der Kalker Drogenbande um Samir A.
Sukzessive klären die Ermittler nun ein kriminelles Joint-Venture zwischen Köln-Kalk und Amsterdam auf. Zu den rheinischen Hauptakteuren soll etwa ein Mann zählen, der sich Osman nennt. Bei der Vorlage von Fotos erkannte die weibliche Geisel ihn wieder. "Oh mein Gott, was er mit mir gemacht hat", entfuhr es der Frau während ihrer Vernehmung. Osman füllt zahlreiche Polizeiakten wegen gefährlicher Körperverletzung, räuberischen Diebstahls, Betruges und Geldwäsche. So wie die anderen inhaftierten Kölner Geiselnehmer auch. Alle fünf leben in rechtsrheinischen Vierteln wie Kalk, Vingst und Porz.
Eine große Rolle im Kölner Folterkeller soll ein Mann gespielt haben, der unter dem Synonym Xidir operierte. Der Tatverdächtige ist wegen Vergewaltigung und Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz polizeibekannt. Er soll Zimmer eines Kalker Hotels als Drogenumschlagplatz und Waffenbunker benutzt haben. Ein Komplize hatte der Polizei die Codes für die Türen genannt. Bei einer Razzia funktionierten die Schlüsselzahlen. Auf Anfrage wollten die Strafverfolger nicht mitteilen, was sich in den Räumen fand.
Anschläge: Attentäter irrten sich mehrfach bei Adresse
Inzwischen sieht die EG "Sattla" viel klarer, wie es um die komplexen Strukturen rund um den Drogenkrieg bestellt ist. So geht man auch davon aus, dass manche Sprengkörper an der falschen Adresse hochgingen. So etwa am Club Vanity auf den Kölner Ringen am 16. September. "Offenbar hatte sich der Attentäter in der Adresse geirrt", glaubt ein Ermittler. Für die holländischen Drogenhändler sei es ein Leichtes, per Telegram für ein paar hundert Euro aus den sozialen Brennpunkten in Utrecht, Amsterdam oder Rotterdam junge Männer für Anschlagkommandos zu rekrutieren. "Das sind aber keine Profis", sagt der Beamte.
Mitunter gehen die Attacken aber auch schief. So etwa im September in Solingen. Ein Kronzeuge hatte sich aus dem Polizeischutz verabschiedet, um seine Freundin aufzusuchen. Die kölnisch-holländische-Drogenverbindung bekam Wind davon und sandte zwei Auftragsmörder aus. Allerdings irrten sich die beiden an der Haustür. Sie machten so viel Lärm im Treppenhaus, dass der Mieter im vierten Stock wach wurde und durch den Türspion schaute.
Als er die Männer sah, wich der Bewohner geistesgegenwärtig zur Seite. Der Schuss verfehlte ihn nur knapp. Danach verschwanden die Auftragsmörder. Normalerweise dauern Verfahren im Bereich der Organisierten Kriminalität (OK) mehrere Jahre. Doch in diesem Komplex scheinen Justiz und Polizei in Köln große Fortschritte gemacht zu haben. Laut Oberstaatsanwalt Bremer ist mit ersten Anklagen zum kommenden Jahresanfang zu rechnen. © Kölner Stadt-Anzeiger
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