Timo Werner (12 Länderspiele/7 Tore) von RB Leipzig hat gute Chancen, bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland Mario Gomez im Angriff auszustechen. RB-Blogger Matthias Kießling erklärt, wo Werners Stärken liegen, wie er sich bei RB entwickelt hat und wie wahrscheinlich ein Wechsel zum FC Bayern ist.

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Herr Kießling, welche Rolle kann Timo Werner nach 13 Toren und neun Vorlagen in der abgelaufenen Bundesligasaison bei seiner ersten Weltmeisterschaft in Russland spielen?

Matthias Kießling: Eine große. Er ist der einzige Stürmer, der in den letzten Monaten in der Nationalelf gesetzt war. Die Chancen stehen 50/50, dass Joachim Löw von Beginn an auf ihn und nicht auf Mario Gomez setzt.

Was spricht für Werner?

Werner ist ein Stoßstürmer, ein starker Konterspieler. Sprints in die Tiefe, schnell sein, den Ball ablegen – das sind seine Stärken. Aber diese Rolle hat er gerade in der zweiten Saisonhälfte in der Schwächephase von RB Leipzig etwas verloren. Daher bin ich gespannt, wie Bundestrainer Joachim Löw ihn einsetzen wird.

Was glauben Sie?

Das ist die Frage. Werner ist jedenfalls keiner, der im Ballbesitzfußball mit vielen Kombinationen aufblüht - auch wenn er da schon besser geworden ist in den letzten Jahren.

Im Ballbesitz muss er der Abschlussstürmer sein, der durch Sprints und Wege auch mal einen Gegenspieler mitzieht, damit Räume für andere öffnet und einen Weg zu guten eigenen Abschlüssen findet.

Und was spricht für Gomez?

Natürlich die Erfahrung. Gomez braucht relativ wenig Abschlüsse, um ein Tor zu machen. Und dann das Kopfballspiel, wo er Werner überlegen ist. Ich finde aber auch, dass Gomez wegen seiner Größe und körperlichen Präsenz missverstanden wird.

Auch er hat Stärken im Umschaltspiel und ist keiner, der nur im Strafraum herum steht und auf Bälle lauert. Werner und Gomez haben zwar unterschiedliche körperliche Voraussetzungen, sind aber eigentlich ähnliche Spielertypen.

Harmoniert Werner gut mit Thomas Müller, der im Angriff gesetzt ist?

Werner hat sich extrem weiter entwickelt, was das Einsetzen der Mitspieler betrifft. Mal den Kopf hoch zu nehmen und auch mal den Querpass zu spielen, das kann er jetzt.

Von daher denke ich, dass sich das mit Thomas Müller, der im Zentrum ja auch eigene Wege geht, sehr gut ergänzen kann.

Werner musste nach lärmbedingten Gleichgewichtsstörungen beim Champions-League-Spiel gegen Besiktas Istanbul eine wochenlange Pause einlegen. Wie stark ist er mental?

Die Geschichte würde ich gar nicht so hoch hängen. Da kamen viele Dinge zusammen. Grundsätzlich hat Werner in Leipzig viel mehr Selbstvertrauen bekommen, er ist in seinem ganzen Auftreten lockerer geworden.

Aber er neigt immer noch dazu, in Phasen, in denen es nicht so läuft, zu viel zu wollen und auf dem Platz Dinge zu machen, die nicht zu seinen großen Stärken zählen.

Könnte das auch in Russland zum Problem werden?

In der Tat sehe ich die einzige Gefahr darin, dass er aus Ehrgeiz überdreht und falsche Entscheidungen trifft. Er ist erst 22 und muss bei der WM in viel weniger Spielen als in einer Bundesligasaison zeigen, was er drauf hat. Dass er dem äußeren Druck nicht Stand hält oder Probleme bekommt, weil es zu laut wird, glaube ich dagegen weniger.

Gegen den Leipziger gab es nach seiner Schwalbe auf Schalke im Jahr 2016 massive Anfeindungen, auch bei Länderspielen. Dies wird oft mit Kritik am Retortenklub RB Leipzig vermischt. Ist er trotz seiner Zugehörigkeit zu RB ein Nationalspieler wie jeder andere?

Für die Breite der Anhänger der deutschen Elf spielt seine Vereinszugehörigkeit keine Rolle. Werner soll Tore schießen für Deutschland, die Schwalbe ist in ihren Augen längst Geschichte.

Bei dem ominösen WM-Qualifikationsspiel in Prag (Teile der deutschen Anhänger riefen in Richtung Werner "Hurensohn" - d. Red.) waren Fans aus der Kernszene von Dynamo Dresden im Stadion, die RB auch wegen der räumlichen Nähe zu Leipzig besonders ablehnend gegenüber stehen.So etwas kann es natürlich immer wieder geben. Im Übrigen haben ihn die Anfeindungen reifen lassen.

Der Marktwert des gebürtigen Stuttgarters liegt laut transfermarkt.de bei 60 Millionen Euro. Verlässt er nach einer guten WM die Leipziger?

Grundsätzlich glaube ich, dass ein langer WM-Sommer kein guter Zeitpunkt zum Wechseln ist. Bei RB Leipzig kriegt er seine Einsatzzeiten und kann sich in Ruhe wieder eingewöhnen.

Bei einem europäischen Spitzenklub wie Real Madrid, dem FC Liverpool oder Juventus Turin müsste er sich ganz neu durchbeißen und vielleicht auf der Bank sitzen. Ich denke, er wird noch bis 2019 bei RB bleiben und erst danach wechseln.

Unter welchen Voraussetzungen wäre sein vorzeitiger Weggang denkbar?

Vielleicht wenn Robert Lewandowski im Sommer die Bayern verlässt.

Wie stehen die Chancen für einen Wechsel nach München?

Ich glaube, dass der Schritt ins Ausland wahrscheinlicher ist. In England oder Spanien hat er ja ein paar Topklubs als Kandidaten genannt. Liverpool mit seiner aktuellen Spielweise würde natürlich perfekt passen.

Die Bayern sehe ich nicht zwingend als Ziel Nummer eins. Es wäre aber in Deutschland der einzige relevante Verein für Werner.

Wie hat er sich seit seinem Wechsel zu RB vor zwei Jahren entwickelt?

Früher war er ein Inselbegabter: Werner konnte mit und ohne Ball schneller als jeder andere gerade aus rennen und den Ball ins Tor schießen. Er ist ein sehr viel kompletterer Spieler geworden. Im Kopfball- und Kombinationsspiel hat er dazu gelernt. Auch im Passspiel hat er sich entwickelt.

Wird man ihn in 15 Jahren in einem Atemzug mit Namen wie Klinsmann, Völler oder Klose nennen?

Als er zu RB kam, hätte ich ihm eine ganz große Karriere nie zugetraut. Aber mit dem Tempo, mit dem er sich entwickelt hat, dürfte er in ein paar Jahren der unumstrittene Stürmer Nummer eins in Deutschland sein – wenn er gesund bleibt und die nächsten Schritte geht.

Zur Person: Matthias Kießling (44) schreibt seit 2010 als Rotebrauseblogger über RB Leipzig.

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