Der Bundestag hat den Gesetzentwurf der Union zum Thema Migration abgelehnt – es bestand die Möglichkeit, dass die AfD zur Mehrheitsbeschafferin hätte werden können. Nach turbulenter und heftiger Debatte hat es dazu nicht gereicht. Die Fraktionen blicken unterschiedlich auf den Tag zurück.

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Der Tag im Bundestag, er war turbulent. Es stand die Möglichkeit im Raum, dass die Union einen Gesetzentwurf zur Steuerung der Migration mithilfe der Stimmen der AfD verabschiedet. Am Ende hat es dafür nicht gereicht. Am Ende war das Ergebnis knapp: 338 Abgeordnete haben mit Ja gestimmt, 349 mit Nein, fünf haben sich enthalten. Für Jubel sorgte dieses Ergebnis am Ende nur bei der Gruppe der Linken. Der Rest des Plenums: bedrückend still.

Schnell zogen sich die Fraktionen in ihre Sitzungssäle zurück. Sie sind offensichtlich schockiert – und müssen noch an der vorausgegangenen Debatte knabbern. Ob dieser Tag das Vertrauen untereinander nachhaltig erschüttert hat, wird sich zeigen. Klar ist aber: Die Debatte war hart, die Vorwürfe, die einander gemacht wurden, heftig.

Für die Verfechter des Antrags sind die Gegner ein großes Teil des Problems, sie seien nicht bereit zu tun, was notwendig ist, heißt es immer wieder. Für die Gegner wiederum sind die Verfechter jene, die Löcher in die Brandmauer schlagen und der AfD die Hand reichen. Die Debatte, sie wirkt vergiftet und außer Kontrolle.

Mehrere Stunden musste die Bundestagssitzung unterbrochen werden, weil die Fraktionsspitzen von Union, FDP, SPD und Grünen versucht hatten, eine gemeinsame Lösung zu finden – am Ende aber haben die beiden Lager wohl nicht am selben Strang gezogen, sondern gegeneinander gearbeitet – und sich schließlich schwere Vorwürfe bezüglich der Schuldfrage gemacht.

Das Gesetz wurde namentlich abgestimmt – und abgelehnt. Trotz der Stimmen der AfD reichte es für Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) und sein Gesetz nicht. Der Schaden aber, er ist womöglich dennoch angerichtet. Die Fraktionen kommen nach diesem Tag zu unterschiedlichen Lesarten:

SPD spricht von zweifachem Scheitern des Friedrich Merz

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich etwa spricht in seinem Statement nach der schnellen Fraktionssitzung von einem "bedeutenden Tag" und einer "heftigen Debatte". Er spricht die Journalistinnen und Journalisten an: "Sie haben heute feststellen können und feststellen müssen, dass SPD und Grüne bis zum Schluss alles dafür getan haben, dass FDP, Union und auch das BSW nicht mit der AfD abstimmen."

Er habe gemeinsam mit den Grünen-Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge bis zuletzt versucht, Friedrich Merz, Thorsten Frei (beide CDU), Christian Dürr und Christian Lindner (beide FDP) davon abzubringen, gemeinsam mit der AfD zu stimmen. Mützenich zeigt sich empört darüber, dass nun behauptet werde, Grüne und SPD seien nicht bereit gewesen, Kompromisse zu finden. Für ihn gehöre zur inneren Sicherheit in Deutschland auch dazu, noch einmal über das Europäische Asylgesetz (GEAS), das Bundespolizeigesetz und das Sicherheitspaket zu sprechen. "Ich verstehe nicht, warum sie das nicht wollen", zeigt sich Mützenich ratlos.

Für ihn ist aber auch klar: Der Unionkanzlerkandidat sei an diesem Tag zweifach gescheitert. Einmal, weil Merz den Weg zur AfD gesucht habe und zum zweiten Mal, weil ihm am Ende trotz der neuen Koalition mit der AfD zahlreiche Stimmen gefehlt haben. Mützenich zollt den Christdemokraten, die sich an diesem Tag gegen den Weg ihres Vorsitzenden gestellt haben, Respekt. Nun müssten die Wähler am 23. Februar entscheiden, ob die Schieflage, die in dieser Woche entstanden sei, wieder in die Waagrechte gebracht würde.

Auch die erste parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Katja Mast, erklärt auf Nachfrage dieser Redaktion, Merz habe sich verzockt. Mast sagt: "Er hat die demokratische Mitte für nichts und wieder nichts verlassen und einen Pakt mit der AfD geschlossen." Zudem habe Merz "wiederholt" Wortbruch begangen. Für Mast ist klar: "Wer so verantwortungslos handelt, darf unser Land nicht führen."

Merz schiebt FDP die Mitschuld zu

Friedrich Merz und Alexander Dobrindt sind sichtlich verschwitzt von dem Tag und der harten Debatte, als sie im Anschluss an die Abstimmung vor die Presse treten. Nur wenige Tage seien bisher "so spannend und einflussreich wie der heutige Tag" gewesen, fängt Merz an. Er bedauere sehr, dass es nicht zu einer Entscheidung für den Gesetzentwurf gekommen sei.

Lediglich zwölf Abgeordnete seiner Fraktion seien seinem Antrag nicht gefolgt. "Das respektiere ich." Allerdings hätte sich Merz mehr Beteiligung von der FDP gewünscht, sagt er auf Nachfrage eine Journalistin. Dort habe es zwei Neinstimmen, fünf Enthaltungen und 16 Nichtteilnahmen gegeben. Die FDP habe das Gesetz mit ihrer "schlechten Präsenz mitverhindert", sagt Merz deutlich. "Wenn wenigstens die Sozialdemokraten und Grüne in Teilen dafür gestimmt hätten …", sagt Merz. Letztlich sei es an ihnen gescheitert.

Merz hätte selbstverständlich gerne ein anderes Ergebnis gesehen. "Aber das Ergebnis schafft dennoch Klarheit. Darüber, wo wir stehen und wo SPD und Grüne stehen." Bei den Grünen hätte es so gar keine Bestrebungen gegeben an diesem Tag, führt Merz aus. Die SPD hingegen hätte laut seiner Einschätzung nur ein Thema gegen ihn haben wollen. "Das hat aber auch so nicht geklappt", meint Merz.

Damit gibt Friedrich Merz das Unschuldslamm. Schuld sind die anderen demokratischen Parteien, genau wie am Mittwoch. Er und seine Fraktion hingegen sind immer zu Gesprächen bereit, an ihnen scheitert es nicht. So seine Erzählung.

Die Woche sei eine spannende Woche gewesen. Aber: "Ich sehe keine Möglichkeit mehr zu substanziellen Übereinstimmungen zu kommen in dieser Wahlperiode", sagt Merz. Der deutsche Parlamentarismus sei der wahre Sieger dieser Woche gewesen, findet der CDU-Chef. Denn die Debatte habe der Demokratie keineswegs geschadet, sondern eher genutzt.

Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Dobrindt, macht zudem klar, dass das Thema Wende in der Migrationspolitik in den Koalitionsverhandlungen nach der Wahl eine große Rolle spielen werde.

Merz erzählt auf Nachfrage von den heutigen Gesprächen mit Katharina Dröge, Britta Haßelmann (beide Grüne), Rolf Mützenich (SPD) und Christian Dürr und Christian Lindner (beide FDP) im Vorfeld der Abstimmung. Er habe dabei eine "sehr vergiftete Atmosphäre" untereinander wahrgenommen. In Einzelgesprächen sei man sich in der Sache zwar nicht einig gewesen, aber der Umgang war "in Ordnung", unterstreicht Merz ausdrücklich. Man sei allerdings von einer Krise der Demokratie weit entfernt. Merz ist überzeugt: "Nach dem 23. Februar können wir trotzdem vernünftige Gespräche miteinander führen."

Grüne werfen Union Erpressungsversuch vor

Britta Haßelmann war im Vorfeld der Debatte und der Sitzungsunterbrechung eine Stufe im Plenarsaal heruntergestürzt. Einige Abgeordnete, darunter auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach, sind daraufhin sofort mit der Co-Fraktionschefin der Grünen rausgeeilt. Jetzt tritt sie mit Pflaster auf dem Nasenrücken vor die Presse.

"Ich bin sehr irritiert darüber, was da gerade kommuniziert wird", sagt Haßelmann vor Journalistinnen und Journalisten nach der Abstimmung. Heute hätte es eigentlich darum gehen sollen, darüber zu verhandeln, ob eine Sofortabstimmung herbeigeführt wird oder eine Zurückweisung in die Ausschüsse geschieht. Stattdessen sei es um Einzelheiten des Gesetzes gegangen. "Man kann nicht erwarten, dass man auf Zuruf nochmal Einzelheiten klärt", sagt Haßelmann an die CDU/CSU-Fraktion und Friedrich Merz gerichtet.

Co-Fraktionschefin Katharina Dröge warf mit Blick auf Verhandlungen der Union einen Erpressungsversuch vor. Sie habe nach dem Motto gehandelt: "Stimmt zu, sonst stimmen wir mit den Nazis." Weiter sagte sie: "Man sieht schon jetzt, wie zersetzend es ist für die parlamentarische Demokratie, wenn demokratische Kräfte anfangen, mit Rechtsextremen Bündnissen zu schließen."

Auf Nachfrage, wie viel kaputtgegangen sei an diesem Tag, antwortete Dröge: "Das Parlament hat den schlechtesten Tag. Es ist in der Mitte gespalten." Deshalb hätten die Grünen darauf bestanden, das Thema aus dem Wahlkampf herauszuziehen. "Warum im Eilverfahren und nicht ordentlich?", fragt Dröge. Alle wüssten, dass ordentliche Verfahren besser funktionieren. "Merz hat nach heute ein Führungsproblem", fügt sie hinzu.

AfD nennt Merz "Bettvorleger"

Auch die AfD-Vorsitzende Alice Weidel geht davon aus, dass die Mehrheit bei der Abstimmung über das Migrationsgesetz wegen Abweichlern in der Unions-Fraktion nicht zustande gekommen ist. "Das ist die Demontage von Friedrich Merz als Kanzlerkandidat gewesen", sagt sie nach der Abstimmungs-Niederlage.

Seine eigene Fraktion habe ihn "abgesägt". "Er kann kein Kanzler, er kann kein Kanzlerkandidat", sagte Weidel. Was sich heute ereignet habe, sei "die Implosion einer konservativen Volkspartei". Merz könne das Land nicht führen, er könne nicht einmal seine eigene Fraktion führen, sagte die AfD-Vorsitzende. "Friedrich Merz ist als Tiger gesprungen und endete als Bettvorleger."

Friedrich Merz

Merz schließt Koalition mit AfD nach Bundestagswahl aus

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) schließt eine Koalition mit der AfD nach Bundestagswahl aus. "Ich werde es nicht machen", sagte Merz bei einem Wahlkampfauftritt am Donnerstagabend in Dresden. Wegen der gemeinsamen Abstimmung für eine schärfere Migrationspolitik mit der in Teilen rechtsextremen Partei steht Merz aktuell unter Druck.

Die FDP-Fraktion ist nicht noch einmal vor die Presse getreten. Am Mittag hatte Fraktionschef Dürr noch SPD und Grüne in die Pflicht genommen, für eine Beschlussmehrheit ohne die AfD zu sorgen.

Die unterschiedliche Auslegung des Tages in den Statements zeigt, die Debatte ist noch lange nicht vorbei. Alexander Dobrindt hat es bereits angedeutet: Das Thema ist zwar für die aktuelle Legislatur beendet, es wird aber wohl zentrales Thema in den Koalitionsverhandlungen werden.

Verwendete Quellen

  • Besuch der Plenardebatte und Pressestatements
  • Material der dpa
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