• Kevin Kühnert weist Kritik an der mangelnden Präsenz des Bundeskanzlers zurück: "Kluges Führen bedeutet eben nicht vor jede Kamera zu treten, während noch gar keine Ergebnisse vorliegen."
  • Im Interview mit unserer Redaktion spricht der SPD-Generalsekretär über den Abschied von Hartz IV, die Gaspipeline Nord Stream 2 – und die neue "Körperhaltung" seiner Partei.
Ein Interview

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Herr Kühnert, haben Sie sich in letzter Zeit auch manchmal gefragt, wo Olaf Scholz ist?

Kevin Kühnert: Olaf Scholz ist dort, wo ein deutscher Bundeskanzler zu sein hat, wenn zwei Flugstunden von uns entfernt ein Krieg droht: Er ist in intensiven Gesprächen mit dem NATO-Generalsekretär, mit dem französischen Präsidenten Macron, er reist am Montag nach Washington, später dann nach Kiew und Moskau. Er verhandelt für den Frieden. Genau das muss man von einem Bundeskanzler auch erwarten. Kluges Führen bedeutet eben nicht vor jede Kamera zu treten, während noch gar keine Ergebnisse vorliegen.

Können Sie nicht nachvollziehen, dass viele Menschen sich einen präsenteren Kanzler wünschen?

Erstmal finde ich es gut, dass es ein Bedürfnis gibt, den Kanzler zu sehen und seine Gedanken nachzuvollziehen – nachdem sich Angela Merkel der Öffentlichkeit ja immer mehr entzogen hat. Es ist selbstverständlicher Teil der politischen Arbeit, sich den Medien und der kritischen Öffentlichkeit zu stellen. Genau das macht Olaf Scholz, zuletzt unter anderem im ZDF Heute-Journal. Nun nimmt er 20 Journalisten mit nach Washington. An Präsenz mangelt es wirklich nicht.

Kevin Kühnert: "Natürlich hat Nord Stream 2 eine starke politische Dimension"

In der SPD wird betont, dass man im Ukraine-Konflikt geschlossen sei. Einerseits gibt es aber Personen wie Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern, die darauf drängen, dass die Gas-Pipeline Nord Stream 2 ans Netz geht. Anderseits droht die SPD mit einem Ende des Projekts, falls Russland in die Ukraine einmarschiert. Wie passt das zusammen?

Das Projekt ist im Grundsatz energiepolitisch entschieden und das bestreitet in Deutschland auch kaum jemand. Jetzt geht es aber um etwas Größeres, nämlich darum, einen Krieg in Europa – zwei Flugstunden von Berlin entfernt – zu verhindern. Daher sind wir alle – von Manuela Schwesig über den Bundeskanzler bis zu mir – ganz klar: Wenn das Staatsgebiet der Ukraine durch eine militärische Aggression Putins erneut verletzt wird, hat das harte Konsequenzen zur Folge. Dann liegen alle Optionen auf dem Tisch, und am Wort "alles" ist nichts missverständlich.

Also ist Nord Stream 2 doch ein politisches und kein rein wirtschaftliches Projekt?

Natürlich hat dieses wirtschaftliche Projekt auch eine starke politische Dimension, das ist unbestreitbar. Die Dimension besteht nicht nur aus den Interessen von Wladimir Putin. Auch wir in Deutschland haben Interessen, beispielsweise an einer stabilen und bezahlbaren Energieversorgung für Industrie und Privathaushalte. Und dafür benötigen wir noch einige Jahre Gas. Das wird nicht allein über Nord Stream 2 organisiert werden. Es gibt auch andere Wege – die sind aber nicht in jedem Fall klima- und sicherheitspolitisch geeigneter. Wenn es um Sicherheit und Klimaschutz geht, dann kommen wir letztlich immer wieder zum gleichen Punkt: Wir müssen uns schnellstmöglich zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgen können. Nur das schafft uns Auswege aus der vielschichtigen weltweiten Abhängigkeit von Lieferwegen und fragwürdigen Machthabern.

Der von der Bundesregierung beschlossene Heizkostenzuschuss – für 2,1 Millionen Menschen und zunächst nur einmalig – dürfte kaum reichen, um das Problem der steigenden Energiepreise zu lösen, oder?

Wenn es das Einzige wäre, was uns einfällt, würde ich zustimmen. Aber es ist nicht das Einzige. Wir haben gerade zum Jahreswechsel das Wohngeld so geändert, dass es sich regelmäßig an die Wohnkosten anpasst. Jetzt kommt der Heizkostenzuschuss. Wir werden zudem die EEG-Umlage abschmelzen, möglichst noch ein bisschen schneller als eh schon vorgesehen, um Haushalte und Wirtschaft gleichermaßen zu entlasten. Wir bremsen den Anstieg vieler Kaltmieten. Wir erhöhen den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde, was Haushalten mit geringem Einkommen hilft. Und wir haben bei den Energiepreisen immer gesagt: Wir beobachten die Situation und sind in der Lage zu reagieren, wenn sich die Entwicklung fortsetzt. Das werden wir dann aber klug überlegt tun und nicht einfach einen Blankoscheck für Unternehmen ausstellen, die beliebig an der Preisschraube drehen können, weil der Staat es am Ende abfedert.

Sie selbst waren in den Verhandlungen zur Ampel-Koalition für die Bereiche Bauen und Wohnen zuständig. Hat die neue Bundesregierung die nötigen Instrumente, um den zum Teil extremen Anstieg der Mieten zu bremsen?

Die Ampel-Regierung wird folgendermaßen vorgehen: Von den Instrumenten, die wir heute haben, wird keines wegfallen. Die Mietpreisbremse ist nicht perfekt, aber sie ist das beste Instrument, das wir bislang bei Neuvermietungen haben. Wir verlängern sie für einen langen Zeitraum. Daneben haben wir die Kappungsgrenze, wo wir nachschärfen werden. In einer angespannten Wohnlage – also beispielsweise der kompletten Stadt Berlin – werden nur noch Mieterhöhungen um höchstens elf Prozent in drei Jahren möglich sein. Bislang sind es 15 Prozent. Hier kommen aber die Länder ins Spiel.

Inwiefern?

Wo eine angespannte Wohnlage herrscht, entscheidet nicht die Bundesregierung, sondern jedes Bundesland für sich. Da gibt es Unterschiede. In Berlin sagt der Senat: Alle Menschen hier leben in einer angespannten Wohnlage und verdienen besonderen Schutz. In Nordrhein-Westfalen sagt die schwarz-gelbe Landesregierung: Nur 18 unserer Städte und Gemeinden sind angespannte Wohnlagen. Das ist realitätsfremd. Und das können die Menschen in NRW nur bei der Landtagswahl lösen.

Die Ampel-Koalition will Hartz IV überwinden – ein Trauma der SPD. Stattdessen soll es ein Bürgergeld geben. Was wird sich dadurch ändern?

Das exakte Bürgergeld entwickeln wir in diesem Jahr. Aber die Eckpunkte sind schon ein Richtungswechsel. In den Blick nehmen wir endlich den dauerhaften Weg heraus aus der Arbeitslosigkeit. Die Hartz-IV-Diskussion der letzten 15 Jahren kreiste oftmals sehr oberflächlich um die Frage: Wie bekommen wir erwerbslose Menschen in schnelle Arbeitsgelegenheiten? Die Kraft ging zu selten in die Frage: Wie holen wir die Leute da raus? Wie ermöglichen wir ihnen ein Leben auf eigenen Beinen, in Würde, ohne finanzielle Abhängigkeit vom Staat? Qualifizierung und Weiterbildung stehen deshalb künftig im Mittelpunkt. Vorrangig ist nicht, dass die Menschen sich ein paar Monate etwas dazuverdienen. Vorrang hat die Vorbereitung auf den nachhaltigen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Das entspricht auch dem Wunsch vieler langjährig erwerbsloser Menschen. Und das ist angesichts des massiven Fachkräftemangels auch politisch der richtige Schwerpunkt.

Im Koalitionsvertrag steht aber nichts über die Regelsätze, die die Empfänger bekommen. Sind die aktuell hoch genug?

Das Bundesverfassungsgericht hat Hinweise darauf gegeben, wo sie nicht bedarfsgerecht sind. Und viele Betroffene tun das auch, das entgeht uns nicht. Wir haben uns aber als SPD nie daran beteiligt, irgendwelche Wunschzahlen zu benennen, das wäre unseriös. Die Frage der Regelsätze gehört in die Erarbeitung des Bürgergelds und auch die aktuelle Inflation muss und wird dabei Berücksichtigung finden.

Lassen sich die nötigen Mehrausgaben mit der FDP als Partner durchsetzen? Finanzminister Christian Lindner hat ja schon gesagt, dass seine Kabinettskollegen zu teure Wünsche zusammengetragen haben.

Das sehe ich entspannt. Minister, die nicht erstmal einen langen Wunschzettel einreichen, sind falsch in ihrem Amt. Ich verstehe auch, dass der Finanzminister auf die Haushaltsdisziplin hinweist. Es hat auch niemand etwas gegen Haushaltsdisziplin. Krampfhaft ausgerechnet bei den Ärmsten der Armen zu sparen, das hätte allerdings nichts mit Haushaltsdisziplin zu tun. Gerade bei Menschen, die über ganz wenig Geld verfügen, ist es nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch geboten, ihnen den Weg in gute Arbeit zu guten Löhnen zu ebnen. Das nutzt den Betroffenen, dem Arbeitsmarkt und am Ende auch dem Finanzminister.

Also sind Sie jetzt mit der FDP glücklicher als in der Großen Koalition mit der Union?

Meistens ja. Die FDP und die SPD sind recht unterschiedliche Parteien, das wird auch in der Ampel so bleiben. Es gibt aber Themenfelder, in denen wir sehr eng beieinanderstehen: In der Gesellschaftspolitik werden wir ganz schnell merken, wie sich der Wind in Deutschland dreht. Wir brauchen qualifizierte Einwanderung nach Deutschland, um unseren Fachkräftemangel zu bekämpfen. Wir werden Kinder und junge Menschen mit einer Kindergrundsicherung, der Öffnung des BAFöG und einer Ausbildungsgarantie stärken – da geht schon eine ganze Menge.

Auf anderen Politikfeldern trennt Sie aber vieles.

Klar, in der Verteilungs- und Finanzpolitik haben sich die Unterschiede nicht geändert. Aber wir wissen alle in der Koalition: Die Alternative wäre eine Zusammenarbeit mit der Union. Damit haben wir alle unsere ganz eigenen Erfahrungen gemacht und verspüren wenig Lust, das zu wiederholen. Wir sind also zum gemeinsamen Erfolg verdammt.

"Sicher ist auch manche Leichtigkeit weg, das spüre ich"

Sie waren als Juso-Chef und GroKo-Gegner früher der Kopf der innerparteilichen Opposition. Jetzt tragen Sie als Generalsekretär die Verantwortung, die Regierungspolitik zu erklären. Wie schwierig ist das?

Das ist gar nicht mal so schwierig, weil wir die Umstände in den letzten Jahren ja aktiv verändert haben. Die harte innerparteiliche Opposition aus Zeiten der NoGroko-Kampagne ist heute nicht notwendig, weil wir eine erfolgreiche, geschlossene und programmatisch neu ausgerichtete SPD haben. Damals war es eine an sich selbst leidende SPD, die an ihrer Rolle in der GroKo und der permanenten Kompromissfindung gelitten hat. Jetzt haben wir eine Bundestagswahl gewonnen und führen die Regierung. Das heißt nicht, dass wir selbstzufrieden wären und nicht mehr diskutieren. Aber wir können die Probleme jetzt selbst aus führender Position angehen - was für ein großes Geschenk in der Demokratie! Das ändert die Herangehensweise und erkennbar auch die Körperhaltung der SPD, weil wir morgens weniger miesepetrig aufstehen und stattdessen Selbstbewusstsein ausstrahlen. Mir macht das Freude.

Würden Sie sagen, dass Sie ganz persönlich die SPD verändert haben?

Nicht alleine, aber ein bisschen was hoffe ich schon beigetragen zu haben. Das sehe ich, wenn ich in die Reihen der Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion schaue. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik kann man zumindest im Ansatz sagen: Da sitzt Deutschland, das ist ganz guter Querschnitt unserer Gesellschaft. Jüngere, Ältere, Menschen mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten, Menschen aus Ost und West und zumindest im linken Teil des Parlaments auch ein ordentlicher Anteil Frauen. Das ist auch ein Ergebnis des inneren Erneuerungsprozesses der SPD.

Haben Sie sich auch selbst verändert in den vergangenen zwei Jahren?

Wer Ihnen nach diesen zwei Jahren sagen würde, dass er sich gar nicht verändert hat, würde Ihnen ins Gesicht lügen. Insofern: ja. Ich trage natürlich ganz anders Verantwortung. Sicher ist auch manche Leichtigkeit weg, das spüre ich. Ich bin jetzt nicht nur Abgeordneter, ich darf helfen, die Koalitionspolitik im Hintergrund mit zu koordinieren. Die eigene Wortwahl, das eigene Auftreten werden mithin im internationalen Raum durchleuchtet, wenn der Generalsekretär der größten Regierungspartei in Deutschland spricht. Das ist eine große Verantwortung, aber auch eine größere Freude. Und der Mensch dahinter, der bleibt ja glücklicherweise der gleiche.

Friedrich Merz.

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