Ein Sonnabend ohne Demo? In der Hauptstadt unvorstellbar. Versammlungen, gesperrte Straßen und sich aufregende Autofahrer, all das gehört zum alltäglichen Stadtbild von Berlin, auch und gerade an den Wochenenden.

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Meist unterscheiden sich die jeweiligen Anliegen der Demonstranten, doch seit fast einem Jahr ist auf vielen Protestmärschen vor allem eine Flagge zu sehen – die palästinensische.So auch an diesem Sonnabend. Es ist das Wochenende vor dem 7. Oktober. Dem Tag, an dem die Terrormiliz Hamas in das israelische Territorium eindrang, nach Angaben der israelischen Regierung 1139 Menschen tötete und 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppte. Drei Wochen später begann die israelische Armee ihre Bodenoffensive in Gaza. Der Krieg weitet sich derzeit immer weiter aus.

In Berlin marschieren am Samstagnachmittag etwa 1000 Personen vom Platz der Luftbrücke bis zur Wilhelmstraße und tragen Bettlaken vor sich her, die mit Kunstblut beschmiert sind. Die Demonstranten sind wütend, das betonen die Veranstalter immer wieder und kündigen an: "Für jede Bombe, die fällt, wird unsere Wut noch größer." Anfangs mahnen sie noch zur Gelassenheit und fordern alle Demo-Teilnehmer auf, sich nicht provozieren zu lassen. Doch dann gerät ein Journalist der "Lügenpresse" ins Visier der Demonstranten.

Nach einem Jahr, an dem fast täglich Demonstrationen von pro-palästinensischen Aktivisten stattfinden, wundert sich kaum jemand darüber, wenn nachmittags dutzende Personen mit Palästinensertüchern "Free Gaza" rufen. Doch an diesem Tag ist etwas anders. Den Demonstranten geht es nicht nur um Gaza, sie wollen in erster Linie gegen Polizeigewalt demonstrieren. Im Demo-Aufruf der Veranstalter heißt es dazu: "Wir stellen uns auch entschieden gegen die zunehmende Repression und Polizeigewalt gegenüber Pro-Palästina-Aktivisten, die für Gerechtigkeit und Menschenrechte auf die Straße gehen."

Der pro-palästinensische Influencer Sehat Sisik hielt vor Beginn des Umzugs eine Rede und sprach ...
Der pro-palästinensische Influencer Sehat Sisik hielt vor Beginn des Umzugs eine Rede und sprach davon, dass die Polizei vor ihm „Angst“ habe. © Markus Wächter/Berliner Zeitung

Umkreist von Polizisten, die die angemeldete Demonstration begleiten, brüllt der pro-palästinensische Influencer Sehat Sisik den Beamten entgegen, dass sie gezielt "kleinen Kindern in die Fresse schlagen." Der junge Mann, der in den Sozialen Medien unter dem Namen "Aggressionsprobleme" aktiv ist, redet sich in Range. "Wir sind diejenigen, die Frieden wollen", ruft er den Demo-Teilnehmern entgegen und erntet Jubel. Ebenso euphorisch reagieren die knapp 1000 Personen, als ein Mann von der Hamas spricht und den Teilnehmern im nächsten Satz erklärt, dass dieser Name nicht verwendet werden darf. Aber nicht nur die Terrororganisation Hamas wird bejubelt. Einige Teilnehmer zeigen den sogenannten "Wolfsgruß", in der Türkei ein Symbol der rechtsradikalen "Grauen Wölfe", als sie sehen, dass die Polizei drauf reagieren will, formen sie ihre Finger zum Peace-Zeichen.

Der Tross setzt sich in Bewegung, da ergreift ein Mann mit Palästinensertuch das Mikro und fragt laut: "Hat der Krieg am 7. Oktober angefangen?" Die Teilnehmer brüllen einstimmig nein. Der Mann setzt erneut das Mikrofon an die Lippen und fragt: "Ist das eine Lüge, dass der Krieg am 7. Oktober angefangen hat?" Ein Ja schallt über den Mehringdamm. Er setzt erneut an: "Es ist eine Beleidigung für die Juden, dass man Israel als jüdischen Staat bezeichnet."

Polizisten, mehr als 500 sind an diesem Tag im Einsatz, marschieren schweigend neben den Demonstranten her. Sie halten Abstand, laufen routiniert in Kleingruppen in wenigen Metern Entfernung. Zuvor, als die Demo-Teilnehmer noch am Platz der Luftbrücke ihre Palästinaflaggen in Stellung brachten, tauschen zwei Frauen, deren Vorfahren aus dem Nahen Osten stammen, ihren Hass über die Berliner Polizei aus. "Die Polizei ist der Teufel, den wir besiegen und beseitigen müssen", sagt eine Frau, die sich ein Palästinensertuch um den Kopf gewickelt hat. Ihre Bekannte nickt und fügt hinzu, dass die Polizei ungebildet sei, nichts über die Nakba wisse und von Grund auf böse ist.

Die Demonstration wurde von mehreren hundert Polizisten begleitet.
Die Demonstration wurde von mehreren hundert Polizisten begleitet. © Markus Wächter/Berliner Zeitung

Nachdem die Demonstranten ihren Hass auf Israel in aller Deutlichkeit kundgetan haben, nehmen sie die Presse ins Visier. Die Menge schreit: "Deutsche Medien lügen, lasst euch nicht betrügen." Der Redner appelliert an die Teilnehmer und rät ihnen, nicht mit der Presse zu sprechen: "Sie werden euch jedes Wort im Mund herumdrehen." Und dann hält plötzlich der Tross an. Der Redner hebt seinen Finger und zeigt auf einen Journalisten – Iman Sefati. Er sei der schlimmste, sagt der Mann mit dem Mikro und fügt hinzu: "Gebt diesem Typen keine Aufmerksamkeit, lauft an ihm vorbei, als wäre er Kacke auf der Straße."

Sofort stürzen sich Demo-Teilnehmer auf Sefati, umkreisen und beleidigen ihn. Der Bild-Journalist bleibt erst einmal stehen, hebt seine Kamera und nimmt nach einer kurzen Rangelei dann doch Abstand von den Demonstranten. Die Stimmung ist sichtlich angespannt, was auch daran liegen wird, dass sich der Umzug einer israelischen Gegendemonstration nähert, die vom Redner als "zionistische Versammlung" angekündigt wird. "Lauft an ihnen vorbei, als würden sie nicht existieren, denn für uns existieren sie nicht", brüllt er in sein Mikro und erntet erneut Jubel.

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Doch einige Teilnehmer zücken beim Vorbeigehen dann doch ihr Handy, fangen an zu tanzen und zeigen den knapp zehn Teilnehmern der Pro-Israel-Demo den Mittelfinger. Die Polizei schirmt die Gegendemonstration ab, sodass es zu keinem Zwischenfall kommen kann.

Schlussendlich ist es ein gewöhnlicher Sonnabend in Berlin, an dem mehrere Versammlungen an unterschiedlichen Orten stattfinden. Alle von ihnen werden von der Polizei begleitet, auch wenn die Beamten nicht überall erwünscht sind, so wie hier. Bei der Anti-Israel-Demo bleibt alles friedlich, die Polizei greift nicht ein, macht ihre Arbeit, von Polizeigewalt keine Spur.   © Berliner Zeitung

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