Manja hat wirklich nicht viel Geld, viele würden sie sicher als arm bezeichnen. Aber an diesem Tag ist sie extra nach Berlin gekommen – immerhin aus der Eifel, kurz vor der belgischen Grenze, fast 700 Kilometer entfernt.

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Manja ist so etwas wie eine selbsternannte Botschafterin, eine Sprecherin für Obdachlose.An diesem Tag ist ein Treffen in Berlin, bei dem über dieses dramatische gesellschaftliche Problem gesprochen werden soll. Die Wohnungslosen-Stiftung Berlin hat eingeladen, und auch Manja ist gekommen, dazu Politiker, Leute von Hilfsorganisationen, Medienvertreter. Der gängige Vorwurf der Helfer an die Gesellschaft lautet: Wenn überhaupt, dann wird nur über Obdachlose geredet – quasi über deren Köpfe hinweg, aber nicht mit ihnen.

Genau deshalb ist Manja an diesem Tag in Berlin, sie will ihren Familiennamen nicht in der Zeitung lesen, aber sie will aus ihrem Leben erzählen. "Ich war selbst acht Jahre lang ohne eigene Bleibe", sagt sie. Die 49-Jährige weiß, worum es geht. Sie will vor allem für jene Menschen auf der Straße sprechen, die oft übersehen werden: die Frauen.

Obdachlose Männer sind in Berlin allgegenwärtig, sie sind oft auffällig, laut. Doch die Frauen werden meist nicht wahrgenommen. Besonders die Frauen mit Kindern, die auf der Straße leben müssen. Und da kann Manja drastische Fakten aus ihrem Leben erzählen. Sie sagt: "Ich habe meine Tochter sogar zur Adoption freigegeben. Damit sie ein besseres Leben hat."

In ihrem Blick liegt etwas Trauriges, etwas Schüchternes, aber eben auch etwas Herausforderndes, etwas Mutiges. Es sind die Augen eines Menschen, der viel gesehen hat. Nach der Adoption ihrer Tochter sei sie in ein tiefes Loch gefallen, erzählt Manja. "Aber Kinder haben auf der Straße und in Einrichtungen für Wohnungslose nichts zu suchen."

Berlin ist die Hauptstadt der Obdachlosigkeit – nicht nur in Deutschland, sondern vielleicht auch in Europa. Aus vielen Ländern, besonders aus Osteuropa, kommen Obdachlose in diese Stadt, weil sie in ihrer Heimat bedrängt oder gar verfolgt werden.

Manja war schon früh ohne Bleibe. Mit 18 Jahren habe sie freiwillig beschlossen, auf der Straße zu leben. Sie sei ein "eingesperrtes Kind der DDR" gewesen und habe die Freiheit genießen wollen. In Freiberg in Sachsen ist Manja aufgewachsen. Dann war sie drei Jahre obdachlos, von 2007 bis 2012 galt sie als wohnungslos. Das ist ein Unterschied.

Laut der Definition sozialer Organisationen ist Wohnungslosigkeit eine Art Oberbegriff. Obdachlose Männer und Frauen sind auch wohnungslos. Sie nächtigen auf der Straße, in Parks oder Bahnstationen. Im engeren Sinne wohnungslose Menschen haben hingegen keinen eigenen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Sie übernachten auf Sofas von Freunden oder sind in Massenunterkünften untergebracht.

Alltag in Berlin: Ein obdachloser Mann schläft im U-Bahnhof Museumsinsel.
Alltag in Berlin: Ein obdachloser Mann schläft im U-Bahnhof Museumsinsel. © Markus Wächter/Berliner Zeitung

In Berlin waren Anfang 2022 nach offiziellen Angaben 25.975 wohnungslose Menschen irgendwo untergebracht und mussten nicht auf der Straße leben. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer an Obdachlosen. Insgesamt wird die Zahl der Berliner ohne Heim auf 40.000 geschätzt.

Dazu gehörte früher auch Manjas Sohn. Sie möchte ihn beim Gespräch dabeihaben, denn er gehöre zu ihrer Geschichte. Sie winkt ihn heran – und da stehen sie beide, Mutter und Sohn. Er hat einen langen Bart, trägt eine Sonnenbrille und hat die Kapuze seines Hoodies über den Kopf gezogen. Er heißt Michael und ist 28 Jahre alt.

Nach seiner Geburt 1996 haben sie gemeinsam acht Jahre lang in einer Wohnung gelebt, bis zu einer Eigenbedarfsklage des Vermieters. Manja sagt, die Klage sei nur vorgetäuscht gewesen. Danach sei sie wieder in die Wohnungslosigkeit geraten. "Als es hieß, wir müssen aus der Wohnung ausziehen, hatten wir einen ziemlich vorurteilsbehafteten Menschen vom Jugendamt. Anstatt Hilfeleistung zu bieten, hat der gesagt: Der Junge kommt in eine Pflegefamilie", erzählt Michael. Obwohl seine Mutter beteuert, dass sie es damals so gewollt hat, bezeichnet sie es heute als den schlimmsten Fehler ihres Lebens, denn ihrem Sohn sei es dort nicht gut gegangen. Sie war dann fünf Jahre wohnungslos.

Von seiner letzten Pflegefamilie sei Michael nach Berlin abgehauen und dort ein halbes Jahr lang wohnungslos gewesen. Glücklicherweise habe er "nette Leute" getroffen, die ihn mit den nötigsten Sachen versorgten, einem Schlafsack und einem sicheren Ort zum Schlafen. Er sagt: "Ich würde tatsächlich auch so weit gehen und sagen, dass genau die Leute, die am wenigsten haben, die mit dem größten Herzen sind."

Manja sieht die großen Probleme der Menschen auf den Straßen in Berlin, aber sie hat dazu eine klare Meinung. "Sprecht nicht immer nur über diese Leute, sondern mit ihnen", sagt die 49-Jährige. "Schaut hin! Redet mit ihnen. Das ist manchmal mehr wert als irgendein Euro", sagt sie. "Nehmt sie als Menschen wahr."

Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus dem Jahr 2022 sind 607.000 Personen in Deutschland wohnungslos. Ungefähr 30 Prozent davon sind Frauen. Es wird auch hier mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet, da Frauen häufig "verdeckt" wohnungslos sind. Aus Angst vor Stigmatisierung tauchen viele Frauen im Hilfesystem nicht auf, sondern versuchen, ihre Notlage zu verbergen – viel stärker als Männer. Einige gehen Zwangspartnerschaften ein, in denen als Gegenleistung für den Wohnraum auch sexuelle Handlungen erwartet werden.

Sie habe nicht in Städten übernachtet, das sei für eine Frau zu gefährlich, erzählt Manja. Sie habe außerhalb geschlafen, in Wäldern, mal mit, mal ohne Zelt. Nur drei Nächte im Monat habe sie in Unterkünften verbracht, habe dort aber hauptsächlich geduscht. "Manchmal kommt man da dreckiger wieder raus, als man rein ist."

Sicher habe sie sich in diesen Unterkünften nicht gefühlt. Sie habe keine Angst vor Männern gehabt, sondern vor den Frauen, die sie auch gern "Vipern" nennt. "Ich hab mich unter Männern immer sicher gefühlt, auch ohne irgendwelche Gegenleistungen." Manche Frauen seien schon mal bösartig. "Vor allem, wenn es anderen mal einen Ticken besser geht, dann lassen sie es an einem aus." Insgesamt habe sie aber innerhalb dieser Szene durchaus Glück gehabt und gehöre zu den wenigen Frauen, die keine Übergriffigkeiten von Männern erlebt haben.

Manja ist häufig umgezogen, bekam öfter Besuch von einem Sozialarbeiter, der sie zu den anonymen Alkoholikern schicken wollte. Heute hat sie eine feste Wohnung, hat ihr Leben im Griff und kommt sogar nach Berlin, um für Obdachlose zu sprechen.

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Ihr Sohn Michael lebt in einer Wohnung in Salzwedel in Sachsen-Anhalt. Sie telefonieren jeden Tag miteinander. "Mein Sohn war meine größte Hilfe. Eigentlich ist er mein Ein und Alles" sagt Manja. Dann umarmt sie Michael.   © Berliner Zeitung

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