Rhein-Main-Link: Die geplante Trasse für Windstrom von der Küste in den Großraum Frankfurt soll zwischen zwei Ortsteilen in der Wetterau verlaufen. Bis Ende 2026 darf die Gemeinde deshalb geltende Pläne für Flächen nicht erweitern.

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Das kleine Rockenberg denkt groß. In seiner Neuen Mitte zwischen Oppershofen und Rockenberg wird für die freiwilligen Feuerwehren beider Ortsteile ein gemeinsames Gerätehaus entstehen. Vorgesehen sind daneben ein Neubau für die Grundschule und ein Ärztehaus, Betreutes Wohnen und ein Nahversorger nicht zu vergessen. Der Bebauungsplan ist rechtskräftig – "Gott sei Dank", wie Bürgermeisterin Olga Schneider (Dorfpartei) sagt. Weitergehende Gedanken braucht sie sich derzeit aber nicht zu machen. Denn seit einigen Tagen gilt nach ihren Worten für das Gebiet ein Verbot, bestehende Pläne zu erweitern. Das hat mit der geplanten Küstenstromtrasse namens Rhein-Main-Link zu tun.

Die vier Leitungsstränge bündelnde Trasse soll durch die Gemarkung der zwischen Münzenberg und Butzbach liegende Gemeinde führen. Das heißt: Die von der Bundesnetzagentur derzeit bevorzugte Variante soll genau zwischen Rockenberg und Oppershofen verlaufen – nahe der Neuen Mitte. Mit dieser Aussicht können sich Schneider und andere Ortspolitiker nicht anfreunden. Dieser Trassenverlauf schränke die Gemeinde nicht nur dauerhaft in ihrer Entwicklung ein, "sondern spaltet zudem auch die beiden Ortsteile", heißt es in einem Schreiben der Bürgermeisterin an die Bundesnetzagentur. In diesem Schreiben erläutert Schneider die Pläne, wie beide Ortsteile näher zueinandergebracht werden sollen und Rockenberg ein neues soziales Zentrum erhalten soll. Der Rhein-Main-Link drohe aber sämtliche Anstrengungen dieser Art zunichtezumachen.

Rhein-Main-Link-Kabel in 1,60 Meter Tiefe

"Wir möchten und können heute nicht sagen: Wir wollen uns als Gemeinde nicht weiterentwickeln", hebt Schneider hervor. Schließlich gehe es um kommende Generationen. Viele Möglichkeiten blieben Rockenberg nach dem Stand der Dinge nicht: Drei nordwestlich, östlich und südöstlich gelegene Naturschutzgebiete schränken demnach die Gemeinde ebenso ein wie die im Norden verlaufende Hochspannungsleitung. Hinzu komme die Wetterau samt Überschwemmungsgebiet im Westen. Nicht zuletzt durchziehen Fernwasserleitungen die Gemarkung. Auch deshalb ist die Neue Mitte so bedeutend. Darüber hinaus berührt die von der Netzagentur bevorzugte Trasse die geplante Erweiterung des Gewerbegebiets "Am Sandberg", wie es in dem Schreiben heißt. Sie solle genau durch diese Liegenschaft verlaufen.

Dabei ist zu bedenken: Der Plan für den Trassenverlauf sieht einen 250 Meter breiten Korridor vor. Um die Kabel in 1,60 Meter Tiefe zu verlegen, wird laut Gesetz die offene Bauweise bevorzugt. In der Bauphase soll es einen 75 Meter breiten Streifen geben. Nach Abschluss bleibt ein 40 Meter breiter Schutzstreifen bestehen. Er darf weder bebaut noch mit Bäumen bepflanzt werden.

Rockenberg stehen große Ausgaben bevor

"Wo soll das genau hinführen?", fragt Schneider. "Wir als kleine Kommune sind auf jeden Gewerbetreibenden angewiesen, um die finanzielle Lage der Kommune im Gleichgewicht zu halten." Derzeit erfreue sich Rockenberg einer Vielzahl von Gewerbesteuerzahlern. Falle einer einmal aus, gleiche die Vielzahl das dadurch entstehende Minus aus. Dessen ungeachtet geht es Schneider wie ihren Amtskollegen andernorts: Weitere Gewerbesteuerquellen sind willkommen. Denn der Gemeinde stehen große Ausgaben bevor. So muss sie etwa ihr Kanalnetz erneuern. Das wird Jahre dauern, wie die Bürgermeisterin vorhersagt. Um neue Betriebe anzulocken, sind weitere Flächen notwendig. Zudem haben Bauwillige großes Interesse an einem Grundstück in der nahe der A5 gelegenen Kommune. Schneider beziffert die Anfragen auf etwa 1900. Und das bei einer Einwohnerzahl von derzeit gut 4500. Kleiner als Rockenberg sind in der Wetterau nur Glauberg, Hirzenhain und Kefenrod, die alle im Ostkreis liegen.

Außer den Entwicklungsmöglichkeiten berührt der geplante Trassenverlauf auch schon getätigte Investitionen. Rund fünf Millionen Euro hat Rockenberg nach Angaben der Bürgermeisterin für die Erschließung in die Neue Mitte gesteckt. Eine Million Euro musste sie für archäologische Arbeiten in den Baugebieten ausgeben. Zudem habe die Gemeinde deswegen zweieinhalb Jahre verloren. In dieser Zeit habe sie nicht bauen lassen können. Deutlich länger könnten archäologische Grabungen die Arbeiten an den Küstenstromleitungen verzögern. In Rockenberg ist es wie in vielen anderen Kommunen in der nördlichen Wetterau: Wer tiefer gräbt, stößt fast unweigerlich auf Hinterlassenschaften von Bandkeramikern, Kelten und Römern, im Zweifel auch von anderen Kulturen.

Amprion soll Trassenpläne für Netzagentur verfeinern

So könnten Bauarbeiter auf ein Gräberfeld aus dem vierten und fünften Jahrhundert stoßen und eine ehemalige Kirche. Denn bessere landwirtschaftliche Böden als in Rockenberg gibt es in Deutschland kaum. 95 Bodenpunkte bedeuten einen Spitzenplatz hinter der Magdeburger Börde. Um die Güte der Rockenberger Böden hätten schon frühere Kulturen gewusst, sagt Schneider. Sollten Ausgrabungen notwendig werden, könnten sie den Bau der Küstenstromtrasse um zehn Jahre verzögern – so das Urteil von Experten, die sie zurate gezogen habe. Damit wäre aber der Plan des Bundes hinfällig, von 2033 an Ökostrom aus dem Norden in den Großraum Frankfurt zu leiten.

Vor diesem Hintergrund spricht sich Schneider wie ihre Amtskollegin Isabell Tammer (FWG) in Münzenberg und der Butzbacher Bürgermeister Michael Merle (SPD) für einen Trassenverlauf neben der A5 aus. Außerdem bringt auch sie Freileitungen ins Spiel, zumal die bestehenden Hochspannungsleitungen erneuert werden müssten. Nach der aus ihrer Sicht sehr guten Antragskonferenz Ende August in Butzbach, auf der die Netzagentur ihre Pläne zur Diskussion stellte, hegt Schneider die Hoffnung, doch noch gehört zu werden. Zumal die Zusammenarbeit mit Netzagentur Amprion nun gut verlaufe.

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Nur braucht sie wie andere Beteiligte viel Geduld. Ob und inwieweit das der Fall sein wird, dürfte sie erst Ende 2026 wissen. Bis dahin soll der Netzbetreiber Amprion die Trassenpläne für die Netzagentur verfeinern. Dann erst wird das Unternehmen eine grundstücksgenaue Karte mit dem Verlauf der vier mal drei Kabel vorlegen.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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