Adorno-Preis: Sie fordert ein neues Denken jenseits von "falschen Universalien": Seyla Benhabib fühlt sich der Frankfurter Schule tief verbunden. Nun hat sie in Frankfurt den Adorno-Preis erhalten.

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Frankfurt und die Frankfurter Schule haben sie geprägt: Die Philosophin und Politiktheoretikerin Seyla Benhabib ist am Mittwochabend in der sehr gut besuchten Paulskirche mit dem Adorno-Preis der Stadt ausgezeichnet worden. Benhabib, die mehrfach in Deutschland und in Frankfurt tätig gewesen ist, verstehe sogar Frankfurterisch, erläuterte Oberbürgermeister Mike Josef (SPD), der bewundernde Worte für das Werk der 1950 als Tochter jüdischer Eltern in Istanbul geborenen, in den Vereinigten Staaten lehrenden Professorin fand.

Mit Benhabib werde eine Preisträgerin geehrt, die das Denken der Frankfurter Schule und Theodor W. Adornos (1903–1969) in die Zukunft trage. Josef bezog sich damit auch, ohne ihn namentlich zu nennen, auf den Konflikt um die Adorno-Preisträgerin von 2012, Judith Butler, und deren Haltung zu Israel.

Benhabib wiederum hatte im November 2023 einen offenen Brief an jene universitären Kollegen verfasst, die den Angriff auf Israel als "Widerstand" in einer postkolonialen Interpretation verteidigten. Benhabib verwahrte sich auch in ihrer Dankesrede, die sie auf Deutsch hielt, unter dem Titel "Gegen falsche Universalien und identitäres Denken" gegen das Verwenden unpassender Kategorien und eines Universalismus, der die Bruchstückhaftigkeit der Wirklichkeit ausklammert.

Herleitung ihrer Analysen aus dem Denken Adornos

Ihr Laudator, der Wissenschaftshistoriker Martin Jay, sagte, sie werde der Nachwelt nicht nur als Lehrerin herausragender Studenten in Erinnerung bleiben, die längst selbst Karriere machten, sondern auch als Philosophin, deren Ideen tauglich für die Herausforderungen der Wirklichkeit seien.

Dies bestimmte den Ton der Reden, auch in aktuellen Fragen. Zum Konflikt um die Philosophin Nancy Fraser, die wegen ihrer Haltung gegenüber Israel von der Universität Köln ausgeladen wurde, sagte Benhabib, man müsse nicht die politische Haltung von Denkern, die man schätze, teilen.

Dieses kluge Umschiffen der Erprobung ihrer Forderung nach einem erweiterten Universalismus und des Akzeptierens der Nichtidentität in der Praxis aktueller Konflikte minderte nicht den Glanz der Herleitung ihrer eigenen Analysen aus dem Denken Adornos, den sie in die Nähe der von ihr besonders geschätzten Hannah Arendt rückte – die beiden seien sich in ihrer Kritik an "falschen Universalien" und im Versuch, neu zu denken, ähnlicher, als man glaube. Im Dreieck mit Walter Benjamin als Impulsgeber leitete Benhabib so aus der Frankfurter Schule und der "Dialektik der Aufklärung" ihre philosophische Haltung in einer zunehmend zerrissenen Wirklichkeit her.

Kein Weg führt am Dialog vorbei

Konflikte wie die hitzige Diskussion über Migration, der Klimawandel und die zunehmend schwierige ökonomische Lage der Menschen bewegten zu identitären Haltungen, so Benhabib in der Paulskirche. Europa sei "von einem Kulturkampf gegen den Islam erschüttert" worden. Für sie aber führt kein Weg am Dialog vorbei, und an einer "erweiterten Denkungsart", die unterschiedliche Sichtweisen und Lebensarten anerkennt.

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Diese Denkungsart führt sie auf Adorno zurück. "Die negative Universalität unserer gegenwärtigen Conditio in eine nichtidentitäre Solidarität zu verwandeln" sei das Vermächtnis Adornos. Damit hat Benhabib, wie lange keine Preisträgerin vor ihr, den Bezug zur Frankfurter Schule von Adorno, Horkheimer und vor allem Walter Benjamin bekräftigt.

Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird seit 1977 alle drei Jahre an Adornos Geburtstag am 11. September vergeben.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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