Antisemitismus und AfD: Müssen Juden wieder über Flucht nachdenken? Darüber diskutieren der Publizist Michel Friedman und der Historiker Michael Wolffsohn in Frankfurt. Das eigentliche Problem, sagen sie, ist jedoch viel größer.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Seine Antworten fallen beherzt aus. Mit einem lauten "Ja" antwortet Michael Wolffsohn auf Michel Friedmans Frage, ob er Deutschland als seine Heimat sieht. Und mit einem lauten "Ja" beantwortet er auch die Frage, ob das Land für ihn ein Zuhause ist. Dem Fragesteller selbst geht es anders. Er erinnert sich an ein Deutschland, in das er Mitte der Sechzigerjahre als Kind kam, in dem die Menschen von ihrer Schuld nichts wissen wollten. Statt sich mit der Schoa auseinanderzusetzen, genoss man "Wirtschaftswunder, Volkswagen und weiße Tapeten". Deshalb falle es ihm "auch schwer zu sagen, das ist meine Heimat", sagt Friedman.

Im großen Saal der Deutschen Nationalbibliothek treffen der Moderator und Publizist Friedman und der Historiker Wolffsohn aufeinander. Die Veranstaltung in der Reihe "Die Gegenwart des Exils" ist lange ausgebucht, kaum ein Platz bleibt am Mittwochabend frei. Sprechen werden Friedman und Wolffsohn über die Frage: Müssen Juden in Deutschland wieder darüber nachdenken, das Land zu verlassen? Sind sie noch sicher, noch erwünscht?

Hakenkreuze an Synagogen, judenfeindliche Pamphlete

Ausgangspunkt des Gesprächs ist ein Objekt aus der Sammlung des zur Nationalbibliothek gehörenden Deutschen Exilarchivs: ein Artikel des Journalisten und Schriftstellers Heinz Liepman, erschienen in der "Welt". Sylvia Asmus, die Leiterin des Exilarchivs, stellt den jüdischen Autor vor. Schon 1933 flieht er aus Deutschland nach Paris, später lebt er in New York.

Als Korrespondent des "Time"-Magazins kehrt er 1947 in seine frühere Heimat zurück. Er gründet eine Literaturagentur, schreibt Romane, arbeitet als Übersetzer und für das Feuilleton der "Welt". Dort stellt er im Februar 1959 in einem Essay die Frage: "Müssen wir wieder emigrieren?" Wovon Liepman in seinem Artikel berichtet, erscheint heute wieder fürchterlich aktuell: Hakenkreuze an Synagogentüren, geschändete Friedhöfe, judenfeindliche Pamphlete.

Der Dialog zwischen Friedman und Wolffsohn ist keine klassische politische Debatte, sondern ein oft sehr persönliches Gespräch. Sie duzen sich, sie scherzen, die Vertrautheit zwischen ihnen ist spürbar. Wolffsohn schildert, wie er 1954 im Grundschulalter nach Berlin kam. Geboren wurde er sieben Jahre zuvor in Tel Aviv. Seine Eltern hatten sich dort kennengelernt, beiden Familien war die Flucht aus Deutschland noch rechtzeitig geglückt.

Ein Bamberger Reiter in Tel Aviv

Die Verbindung zur alten Heimat aber blieb im Exil bestehen. Nicht Hebräisch, sondern Deutsch wurde zu Hause gesprochen, eine Gipsfigur des Bamberger Reiters stand im Wohnzimmer in Tel Aviv, erinnert sich Wolffsohn. Während seiner Kindheit in Berlin habe er Judenhass nicht wahrgenommen. Das habe daran gelegen, dass in Westberlin die "klassische Sozialdemokratie" regierte. Er vermutet: "Der Antifaschismus war verinnerlicht."

Mit dem Beginn des Sechstagekriegs im Juni 1967 änderte sich die Lage: An der Freien Universität in Berlin, wo Wolffsohn studierte, wurden Juden und Israelis nun wieder harsch angegangen – "als Speerspitze des Imperialismus" und "Kolonialisten". Vieles, was er damals erlebte, könne man auch heute wieder an deutschen Universitäten beobachten, bei den Demonstrationen und in den Camps der Palästina-Aktivisten. "Das ist das, was mich ehrlich gesagt resignieren lässt", sagt Wolffsohn.

"Für uns reicht die Zeit noch"

Ist es also tatsächlich wieder notwendig, über eine Emigration nachzudenken? "Für uns reicht die Zeit noch", antwortet der Historiker auf Friedmans Frage. Für seine Kinder aber sieht er die Lage anders. Ob sie sich noch sicher fühlen werden in diesem Land, daran hat er Zweifel. Doch wohin sollte man überhaupt ziehen? "Der einzige Ort, wo wir Juden uns nicht als Juden rechtfertigen müssen, ist Israel – like it or not", antwortet Wolffsohn.

Im Endeffekt, da sind sich Friedman und Wolffsohn einig, ist das Problem noch viel größer: Nicht nur Juden sind in Deutschland wieder massiv bedroht, sondern die Demokratie an sich. Eine "autoritäre Welle" habe Europa erfasst. "Es geht nicht nur um die Minderheiten, es geht um Menschenrechte, um Aufklärung", sagt Friedman.

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Vor allem, dass immer mehr Jungwähler die AfD wählen, dass die Partei in Thüringen, wo sie als "gesichert rechtsextrem" eingestuft wird, ein Drittel der Stimmen einsammelt, versetzt die beiden in Sorge – genauso wie der Aufstieg der Wagenknecht-Partei. Dieses Erstarken der politischen Ränder lässt den Historiker Wolffsohn an die Dreißigerjahre denken. "Die Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins", sagt er. "Aber der Mechanismus ist da: Dass wir Rindviecher unsere Metzger selbst wählen."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.