Vera Brandes, der Film "Köln 1975" erzählt, wie Sie noch als Teenager das berühmte "Köln Concert" von Keith Jarrett organisierten. Wie fühlt sich das an, seinem jüngeren Ich auf der Leinwand zu begegnen?
Vera Brandes: Der Regisseur und der Produzent hatten mich gebeten, am Vorabend des Drehbeginns nach Köln zu kommen, um dem Team alles Gutes zu wünschen. Also saß ich am nächsten Morgen in einem Hinterzimmer in der Villa in Niehl, die für den Dreh angemietet worden war. Die wunderbare Mala Emde spielte mich und
Als geschulter Zuschauer denkt man, dass Ulrich Tukur irgendwann doch noch die Kompetenz und die Energie seiner Filmtochter wertschätzen wird. Aber das Leben ist kein Hollywood-Drehbuch …
Nein, leider nicht.
Am Anfang sehen wir sie Gigi Campis legendärer Eisdiele in der Hohe Straße, der englische Tenorsaxofonist Ronny Scott spielt. Wie alt waren Sie damals?
Als ich Ronny kennenlerne, war ich 15.
Und dann fragt Sie dieser fast 30 Jahre ältere Musiker, ob Sie ihm eine Tournee organisieren können. Warum haben Sie sich das als Mittelstufenschülerin zugetraut?
Wahrscheinlich, weil er mich so überzeugend ermutigt hat. Er sagte: Mir hat man erzählt, dass man in Deutschland nachmittags freihat, wenn man in die Schule geht. Da hast du doch den ganzen lieben langen Tag und den Abend Zeit. Ronny rief immer spätabends an, wenn alle schon schliefen. Wir hatten ein einziges Telefon, das stand in der Zahnarztpraxis meines Vaters, aber es klingelte in den Privaträumen der Familie genauso laut. Mein Vater rannte nach unten und dachte, es sei irgendwas in der Familie passiert. Und dann war da nur ein älterer, Englisch sprechender Herr am Telefon und verlangte nach Vera Brandes. Nachdem das dann dreimal passiert war, habe ich Ronny gesagt: In Ordnung, ich buche dir jetzt die Tour, aber bitte ruf mich nicht mehr so spät an.
Im Schulatlas habe ich mit Lineal und Bleistift den Tourverlauf optimiert.
Und wie haben Sie die Tour geplant?
Ich habe mit dem Telefon meines Vaters abends die Clubs angerufen. Im Schulatlas habe ich mit Lineal und Bleistift den Tourverlauf so lange optimiert, bis da kein überflüssiger Kilometer mehr gefahren werden musste. Jetzt, so viele Jahre später, bin ich selbst erstaunt, dass ich das damals hingekriegt habe.
Woher rührte Ihre Begeisterung für den Jazz? In Ihrem Alter hätten Sie doch eher
Ich bin in einem sehr musikalischen Haushalt groß geworden. Zu der Zeit gab es diese Trennung zwischen den einzelnen Genres nicht. Wenn in Köln ein bekannter Künstler in der Sporthalle oder im Gürzenich auftat, ging man als musikbegeisterter Mensch dahin. Die Eintrittspreise waren nicht sehr hoch. Mein Taschengeld ging für Tickets drauf und ich sah einfach alle. Ich kann mich noch an Mikis Theodorakis Auftritt erinnern, in der Sporthalle mit Maria Farantouri. Das war der absolute Hammer. Meine ersten Schallplatten waren
Wo hat sich die Jazzszene in Köln getroffen?
Im Subway natürlich. Einer meiner Lieblingsclubs war auch das Päff, da spielten die Norweger und die Schweden. Aber ich liebte auch Dixieland, fuhr mit meinem Mofa von Longerich am Sonntagvormittag in Gilberts Pinte auf der Zülpicher Straße. Musiker waren für mich das Gegenbild zu dem, was ich sonst kannte. Ich wurde zu deren Maskottchen. Ein Groupie war ich allerdings nie gewesen, die Musiker liebten es, mit mir über ihre Musik zu sprechen. Ich hätte später keine Plattenfirma gründen und Musik produzieren können, wenn ich nicht ein kompetenter Gesprächspartner gewesen wäre. Das hatte auch damit zu tun, dass ich Manfred Miller kennengelernt hatte, einen bekannten Jazzkritiker, der die Programmhefte für die Jazztage in Berlin und Gigi Campis "Week of Jazz in Action" in Köln verfasst hatte – der schrieb genial. Durch ihn wurde ich schnell zu einem Experten und die Musiker nahmen mich ernst. Zu Hause nahm mich keiner ernst. Also wurden die Musiker meine Welt.
Ihre Ersatzfamilie …
Ab 1972 fuhr ich mit Manfred Miller und seiner Verlobten Gisela nach Berlin zu den Jazztagen. Durch diese Verbindung konnte ich in der Chefetage einsteigen. Duke Ellington, Miles Davis oder Ornette Coleman begegneten mir hinter der Bühne, ich hatte einen Backstage-Pass und durfte bei vielen Konzerten auf der Bühne sitzen. Ich bekam mit, wie die Musik entsteht. Das war für mich das Aufregendste, was man sich vorstellen konnte.
Ich habe mich mehr mit Janis Joplin und Aretha Franklin identifiziert als mit den Menschen in meiner unmittelbaren familiären Umgebung. Ich wollte ausbrechen.
Auf den Jazztagen haben Sie auch zum ersten Mal Keith Jarrett am Solopiano gesehen?
Ja, aber das Kölner Publikum kannte ihn schon von der "Week of Jazz in Action" 1971, da stand er mit dem Miles Davis Double Quintet und seinem Counterpart Chick Corea auf der Bühne.
Und Jarretts Kölner Opernauftritt gehörte zu einer Konzertserie, die sie veranstaltet haben?
Ja, das war schon die Nummer fünf. Ich hatte viel Vorarbeit geleistet. Angefangen hatte ich im März 1974 mit Ralph Towner und seiner Band Oregon im VHS-Forum der Volksschule. Da kamen etwas über 800 Leute und jedes Konzert danach wurde noch ein bisschen größer. Und sie waren alle ausverkauft. Das Konzert im Dezember 74 mit Gary Burton und Pat Metheny in der Uni-Aula sahen 1500 Leute. Meine Strategie war es, die Eintrittspreise so niedrig wie möglich zu halten. Für das Konzert von Keith Jarrett in der Oper gab es viele Karten für vier D-Mark.
Aber warum musste es für Jarrett unbedingt die Oper sein?
Meine Mutter hatte so viel Verständnis und war so großzügig gewesen, mir für jedes Konzert des Kölner Jazzfestivals 1971 zwei Karten zu schenken. Dort spielte Oscar Peterson in der Oper ein Mitternachtskonzert, solo am Klavier. Als ich dann die Möglichkeit bekam, einen Wochenendtermin im Tourplan von Keith Jarrett im Januar 75 zu ergattern, war für mich klar, dass es die Kölner Oper sein muss. Um dem noch einen draufzusetzen.
Und dann kommt Keith Jarrett zusammen mit EMC-Labelchef Manfred Eicher nach acht Stunden im Renault 4 völlig übermüdet und mit schlimmen Rückenschmerzen in Köln an. Wussten Sie gleich bei der Begrüßung: Das wird schwierig?
Ja. Die waren beide sehr wortkarg. Die waren fix und alle. Als wir dann zur Oper gingen, war es da stockduster, nur die grünen Notausgangsbeleuchtungen brannten. Die Belegschaft war längst im Wochenende, die Abendtruppe noch nicht angetreten. Der Verwaltungsdirektor der Kölner Oper, Herr Breuer, hatte die Anweisung gegebenen, den Bösendorfer um 15 Uhr auf die Bühne zu stellen. Der Klavierstimmer war bestellt, wir kamen gemeinsam an. Eicher und Jarrett haben zuerst gar nichts gesagt, sind fassungslos zehnmal um den Flügel herumgelaufen. Dann öffnete Jarrett den Deckel der Tastatur und fing an zu spielen. Die schwarzen Tasten in der Mitte klemmten, die obere und die untere Oktave klangen, als wären sie mechanisch defekt, die Pedale funktionierten nicht. Noch dazu war das Ding grauenvoll verstimmt. Das war kein Instrument, auf dem an diesem Abend in einem Saal dieser Größe jemand ein Konzert spielen konnte.
Die Arbeiter hatten statt des vereinbarten Bösendorfer-290-Imperial-Konzertflügels einen defekten Stutzflügel, zufällig auch von Bösendorfer, auf die Bühne gestellt. Sie haben sogar noch einen Imperial gefunden, nur hätte der den Transport nicht unbeschadet überstanden. Im Film schlagen Sie gegen Jarretts Hoteltür, beknien den Pianisten aufzutreten, Ihre gesamte Zukunft hinge davon ab. Wie ist es wirklich passiert?
Der Film muss bestimmte Kunstgriffe anwenden, um den Zuschauern klarzumachen, worum es eigentlich geht. In Wirklichkeit war das eine sehr viel kürzere Unterhaltung. Mein Englisch war damals noch nicht besonders gut. Ich hatte aber mitgekriegt, wie Musiker untereinander sprachen, vor allen Dingen, wie Miles Davis mit seinen Musikern sprach. Ich kannte die Vokabel gar nicht, wusste nur, dass sie sehr oft in den Unterhaltungen der Musiker vorkam. Ich sagte zu Jarrett: Keith, if you don't play tonight, I’m gonna be truly fucked and I know you’re gonna be truly fucked, too. Dann haben wir uns gefühlte drei Minuten fassungslos angestarrt. Und dann sagte er mit der gleichen Miles-Davis-Art: It's okay, I’ll play. But never forget, just for you.
Das Konzert sollte ja auch aufgenommen werden.
Ja, alle hofften auf eine Aufnahme, die eine erfolgreiche Plattenveröffentlichung werden konnte. Das sollte in Köln passieren, weil der Pianist Richie Beirach Manfred Eicher erzählt hat, dass er hier auf einem großen, großartig klingenden Bösendorfer gespielt hatte und Herr Breuer von der Oper mir versichert hat, dass sie einen solchen Flügel im Haus haben. Köln war das größte Konzert in der ganzen Tournee. Deswegen diese irrsinnigen Erwartungen und dieser steile Absturz. Das Denkmal gebührt dem Stimmer und seinem Sohn, die es geschafft haben, in wenigen Stunden dieses Klavier zu reparieren und spielbar zu machen. Und Keith Jarrett, der das Risiko eingegangen ist, auf diesem Instrument in diesem Saal zu spielen. Das hätte auch komplett daneben gehen können.
Stattdessen wurden die Erwartungen um ein x-faches übertroffen. War schon während des Konzertes klar, dass hier Geschichte geschrieben wird?

Alle wussten, dass es ein außergewöhnliches Ereignis werden würde. Die Atmosphäre war so dicht. Viele Musiker haben mir von den ein, zwei Ausnahmekonzerten in ihrem Leben erzählt, in denen sich alle Anwesenden übertroffen haben. Wo sie das Gefühl hatten, es spielt etwas Himmlisches mit. Das Kölner Konzert war in meinen Augen ein solcher Ausnahmemoment und das war von den ersten Tönen an, die Jarrett gespielt hat, jedem im Saal klar.
"Köln 1975" von Ido Fluk läuft jetzt in den deutschen Kinos © Kölner Stadt-Anzeiger