• Deutschland gewinnt das Viertelfinale gegen Österreich mit 2:0, tut sich auf dem Weg zum Sieg aber sehr schwer mit dem hohen Pressing der Gegnerinnen.
  • Vor allem mental zeigt die DFB-Auswahl eine herausragende Leistung. Angeführt wird das Team dabei durch die unermüdliche Lena Oberdorf.
  • Im Angriff gibt es ebenfalls viele positive Erkenntnisse für Martina Voss-Tecklenburg – aber auch ein paar offene Fragen.
Eine Analyse

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Deutschland zieht nach einem hart erarbeiteten 2:0-Sieg in das Halbfinale der Europameisterschaft in England ein. Tore von Lina Magull und Alexandra Popp prägen einen Erfolg, der deutlich komfortabler, aber auch deutlich knapper hätte ausfallen können. Fünf Erkenntnisse zum vierten DFB-Sieg im vierten Spiel.

1. Deutschland tat sich schwer mit Österreichs Aggressivität

Überrascht war Deutschland nicht von der Intensität dieses Viertelfinales. "Es war extrem intensiv heute", gab Kapitänin Alexandra Popp nach der Partie in der ARD zu. Man habe es aber auch nicht anders erwartet. Österreich agierte von Beginn an mutig und setzte den deutschen Spielaufbau unter Druck.

Sobald eine Innenverteidigerin den Ball hatte, bewegte sich Angreiferin Nicole Billa in den Passweg zur anderen Innenverteidigerin. Weil Österreich auch das Mittelfeld klug zustellte, blieb Deutschland oft nur der Weg über außen. Und dort fand man zunächst keine Lösungen. Die DFB-Elf war gut 25 Minuten lang überfordert mit dem aggressiven Pressing, verlor einige Bälle in zentralen Räumen.

Passgenauigkeit und das Anbieten in den richtigen Räumen waren lange ein Problem. Statt das Spiel durch Ballbesitz zu beruhigen, suchte Deutschland immer wieder die Flucht nach vorn und entfachte so einen offenen Schlagabtausch. Mehrfach spielten die deutschen Außenverteidigerinnen den Ball auf Klara Bühl oder Svenja Huth, obwohl diese keinerlei Möglichkeiten für eine Anschlussaktion hatten.

Das waren einfache Ballgewinne für die Gegnerinnen. Deutschland verpasste es im ersten Durchgang, die Hektik aus dem Spiel zu nehmen. Dass die Passquote am Ende nur bei 75 % lag, unterstreicht die Probleme. Österreich hätte in der Anfangsphase beider Halbzeiten jeweils treffen können, vielleicht sogar müssen. Das Glück war dahingehend aber auf der Seite der DFB-Auswahl. Dreimal traf Österreich den Pfosten oder die Latte.

2. Deutschland mit einem mentalen Arbeitsnachweis

Spanien war bisher aus taktischer Sicht die größte Herausforderung für Deutschland, weil sich das Team komplett umstellen musste – nämlich auf ein Spiel ohne viel Ballbesitz. Österreich war nun mental die größte Herausforderung des bisherigen Turniers. Den Grund dafür erläuterte Martina Voss-Tecklenburg schon vor der Partie: "Österreich kann nur gewinnen, wir nur verlieren."

Die Österreicherinnen zeigten abermals, dass sie ihren Gegnerinnen alles abverlangen. Sie blieben über die vollen 90 Minuten aggressiv, laufstark und hartnäckig. Selbst nach dem 0:1 und einer längeren deutschen Druckphase in der Schlussphase der Partie gaben sie nicht auf.

Es gab in den letzten Monaten und Jahren Spiele, in denen Deutschland nach schwächeren Anfangsphasen nicht mehr zu sich selbst fand. Das war diesmal anders. Schritt für Schritt und Zweikampf für Zweikampf arbeitete sich das deutsche Team in dieses Viertelfinale. Vor allem im zweiten Durchgang fanden sie zunehmend zurück in ihr dominantes Spiel. Dieser Sieg war ein mentaler Arbeitsnachweis – und trotz holpriger Momente hochverdient.

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3. Lena Oberdorf überragt alle

Deutschland und Österreich sind wohl die beiden Teams im gesamten Viertelfinale, die sich am stärksten über den Teamgeist definieren. Alles, was sie auf dem Platz tun, tun sie ganzheitlich und als Gruppe. Das führt dazu, dass individuelle oder auch gruppentaktische Fehler nicht so stark auffallen. Deshalb tat sich Deutschland so schwer mit Österreich und deshalb schaffte das DFB-Team es aber auch, sich gegen den Trend der Anfangsphase zu wehren.

Es ist normalerweise unsinnig, einzelne Spielerinnen aus diesem Gefüge hervorzuheben. An diesem Abend aber konnte sich selbst die Bundestrainerin ein Sonderlob nicht verkneifen. "Was sie heute gespielt hat, und das in sehr, sehr jungen Jahren", fing Voss-Tecklenburg an, über Lena Oberdorf zu schwärmen, das sei in so einem Spiel "sensationell". Den Award für die Spielerin des Spiels bekam zwar Klara Bühl, doch eigentlich war es die 20-jährige Wolfsburgerin, die das deutsche Spiel prägte wie keine andere.

Oberdorf war überall. In Ballbesitz vor allem in den richtigen Zwischenräumen und ohne Ball immer da, wo Zweikämpfe gewonnen werden mussten. Sie eroberte den Ball elfmal zurück, gewann zehn von 13 Boden- und fünf von sechs Luftzweikämpfen und fing sechs Pässe der Österreicherinnen ab.

Die Mittelfeldspielerin verteidigte so viel Raum, dass Österreich kurz vor dem Versuch gestanden haben muss, sich über die Tribüne an ihr vorbeizuspielen. Mit vier gewonnenen Dribblings und einigen klugen Pässen hebelte Oberdorf zudem das aggressive Pressing der Gegnerinnen mehrfach aus. Wenn sich eine Spielerin ein Sonderlob verdient hat, dann sie.

4. Klara Bühl zwischen Genie und Wahnsinn

Auch Bühl absolvierte insgesamt eine starke Partie. Es braucht aber nur eine Statistik, um die Ambivalenz ihrer Leistungen zu erläutern: Sie gewann sechs von 14 Dribblings. Erstmal spricht es für sie, dass sie diese Eins-gegen-eins-Situationen immer wieder sucht. Ihr Mut und ihr Offensivdrang tun dem deutschen Spiel ganz offensichtlich gut. Das 1:0 hat sie vorbereitet, das entscheidende 2:0 hatte sie aus kurzer Distanz selbst auf dem Fuß – doch der Ball rutschte links am Tor vorbei.

Deutschland braucht diese Spielweise von Bühl, um Überraschungsmomente kreieren zu können. Gleichzeitig ist die 21-Jährige während der 90 Minuten sehr inkonstant. Sie dribbelt sich noch zu oft fest oder spielt einen ungenauen letzten Pass.

Die Flügelspielerin des FC Bayern München hat sich aber während des Turniers bereits steigern können. Es scheint, als wäre die EM für sie eine Art Reifeprozess. Gegen Österreich gelang ihr sehr viel. Aber einiges eben auch nicht. Vielleicht kann sie sich im Halbfinale nochmal steigern.

5. Alexandra Popp: Eine vom Analyseteam aufgestellte Wand

Vor dem Turnier war nicht ganz klar, wie fit Alexandra Popp nach ihrer Coronainfektion sein kann. Spätestens jetzt ist die Frage nach ihrer Fitness verpufft. Nachdem Lea Schüller wegen eines positiven Coronatests aussetzen musste, war die Kapitänin gefordert. Und sie liefert. Sie ist kopfball- und abschlussstark. Gegen Österreich waren es aber zwei andere Popp-Qualitäten, die Deutschland besonders halfen. Eine davon zeigte sie beim 2:0: Die 31-Jährige lief unermüdlich an. Sie ging im Pressing voran und coachte ihre Mitspielerinnen.

Auch am 1:0 hatte die Stürmerin ihren Anteil, weil sie Torhüterin Manuela Zinsberger aggressiv anlief. Die Österreicherin schlug einen unkontrollierten langen Ball, den Deutschland eroberte. Popp lobte anschließend das Analyseteam, das genau diese Schwächen in Österreichs Aufbauspiel ausgemacht und dem Team ganz offensichtlich die richtigen Anlaufwege aufgezeigt hatte.

Eine zweite Qualität, die in diesem Spiel sehr wichtig war: Popp ist mit dem Rücken zum Tor kaum zu verteidigen. Sie ist die perfekte Wandspielerin. Deutschland konnte deshalb in Drucksituationen immer auf den langen Ball ausweichen. Popp gewann jedes ihrer fünf Kopfballduelle. Mehrfach leitete sie den Ball gefährlich weiter, ohne sich umdrehen zu müssen. Sie war die vom Analyseteam perfekt aufgestellte Wand – dass der Ball von ihr zum 2:0 ins Tor prallte, ist eine herrliche Vervollständigung dieser Metapher.

Die Bundestrainerin wird im Halbfinale voraussichtlich ein Luxusproblem haben. Eine Popp in dieser Verfassung wird sie wohl kaum auf die Bank setzen. Für Lea Schüller könnte das bedeuten, dass sie ihren ursprünglichen Stammplatz erstmal verloren haben könnte. Wohl der, die eine dieser beiden Spielerinnen einwechseln kann.

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