• Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hat den erweiterten EM-Kader bekanntgegeben – und sich dabei zurückhaltend präsentiert.
  • Die Defensive ist eines der größten Probleme für das deutsche Nationalteam.
  • In der Offensive ist der Kader üppig besetzt – aber nutzt die Bundestrainerin die Angriffspower ihres Teams?

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Der VfL Wolfsburg hat den DFB-Pokal gewonnen – zum achten Mal in Serie. Bei allem Respekt vor den Doublesiegerinnen und ihrer abermals herausragenden sportlichen Leistung: Spätestens seit der Bekanntgabe des deutschen Kaders für die Vorbereitung auf die Europameisterschaft in England gerät das in den Hintergrund. Es stehen spannende Wochen an, die die Entwicklung des Fußballs in Deutschland maßgeblich beeinflussen könnten.

Noch etwas mehr als einen Monat dauert es, bis die Engländerinnen das Turnier gegen Österreich eröffnen (am 6. Juli um 21:00 Uhr). Am Dienstag hat Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg den erweiterten Kader vorgestellt und sich zu den Zielen der DFB-Auswahl geäußert. Drei Dinge fielen dabei besonders auf.

1. Bundestrainerin mit großer Zurückhaltung

"Es ist vielleicht so, dass Deutschland bei dieser EM nicht zu den Topfavoriten gehört", sagte die Bundestrainerin: "Aber das kann ja auch dazu führen, dass uns der eine oder andere ein Stück weit unterschätzt." Viel angriffslustiger wurde es am Dienstagnachmittag nicht. Der DFB übt sich derzeit in Understatement.

Überraschend ist das nicht. Die letzten Monate verliefen alles andere als gut. Beim Arnold-Clark-Cup musste im Frühjahr ein Rumpfkader antreten. Kurz vor der Europameisterschaft verletzte sich zudem Dzsenifer Marozsan schwer.

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Das größte Problem ist aber eigentlich, dass niemand so wirklich weiß, welche Art von Fußball Deutschland anbieten möchte. "Wir wollen unsere Stärken auf den Platz bringen. Wenn wir das schaffen, bin ich fest davon überzeugt, dass wir bei dieser EM ganz weit kommen werden", sagte Voss-Tecklenburg. Auf welche Stärken sie sich explizit bezieht, sagte sie nicht. Auf jeden Fall bräuchte es von der DFB-Auswahl eine klare Leistungssteigerung im Vergleich zu den letzten Jahren.

Andere Nationen haben aufgeholt, bestechen nicht nur durch Top-Spielerinnen, sondern auch durch klare fußballerische Handschriften und Identitäten. Allen voran die Spanierinnen aus der deutschen Gruppe, die mit vielen Barca-Spielerinnen und einem ballbesitzorientierten Fußball antreten werden.

Und Deutschland? Das Team steht für nichts Konkretes. Mal spielen sie auf Konter, mal auf Ballbesitz. "Wir haben in den letzten Jahren viel rotiert, der erweiterte Kader ist sehr groß", sagte Lina Magull im März zu Spox und Goal. Bei der EM muss das Team nun liefern.

Dass die Bundestrainerin kein klares Ziel ausgeben wollte, passt da ins Bild. Noch ist etwas Zeit bis zum Turnier. Bis auf wenige Ausnahmen kann Voss-Tecklenburg erstmals seit einigen Monaten auf fast alle Schlüsselspielerinnen zurückgreifen. Zumindest das macht aus deutscher Sicht Hoffnung auf ein erfolgreiches Turnier.

2. Die Mannschaft reist mit überschaubarer Defensive zur EM

Acht Spielerinnen hat die Bundestrainer für die Abwehr nominiert, darunter mit Giulia Gwinn und Maximiliane Rall zwei, die schon oft in ihrer Karriere als Außenverteidigerinnen gespielt, ihre Stärken aber eher in der Offensive haben. Mit Marina Hegering steht zudem ein großes, vielleicht sogar das größte Fragezeichen im Kader. Die 32-Jährige absolvierte in dieser Saison nur fünf Bundesliga-Partien für den FC Bayern München. Neben einer langwierigen und vielen kleinen Blessuren sowie Verletzungen setzte sie auch eine Corona-Infektion außer Gefecht.

"Marina fühlt sich gut, hat keine Probleme. Wir werden im Trainingslager genau hinschauen, was sie noch braucht", rechtfertigte Voss-Tecklenburg die Nominierung. Auf dem Papier ist sie eine wichtige Achsenspielerin für das DFB-Team. In der Praxis ist es fraglich, wie fit sie in dieses Turnier gehen kann. Ansonsten hat der Kader im Defensivbereich keine besonders hohe Qualität aufzuweisen. Zuletzt kam es auch immer wieder mal vor, dass Lena Oberdorf als Mittelfeldspielerin in der Innenverteidigung eingesetzt wurde. Nicht zuletzt bei der 2:3-Niederlage gegen Serbien in der WM-Qualifikation offenbarten sich die Defensivschwächen des deutschen Teams. Hier hat die Bundestrainerin im Vorfeld wohl am meisten Arbeit.

3. Deutschland mit der Flucht nach vorn?

Nur weil es derzeit das eine oder andere Problem gibt, muss das aber nicht heißen, dass Deutschland bei der Europameisterschaft nicht erfolgreich sein kann. Ein Blick auf die rechte Hälfte der Kadergrafik des DFB genügt, um zu verstehen, wie viel Power dieses Team in Mittelfeld und Angriff mitbringt.

Tabea Waßmuth, Alexandra Popp, Lena Oberdorf, Svenja Huth (alle VfL Wolfsburg), Linda Dallmann, Lina Magull, Lea Schüller (alle FC Bayern) und Sara Däbritz (PSG) sind mittlerweile gestandene Champions-League-Spielerinnen und sehr erfahren. Mit Klara Bühl, Sydney Lohmann (beide FC Bayern) und Jule Brand (TSG Hoffenheim) kommen drei der größten Talente Europas hinzu.

Und dann gibt es immer noch Nicole Anyomi, Laura Freigang, Sjoeke Nüsken (alle Eintracht Frankfurt) oder Lena Lattwein (VfL Wolfsburg), die sich allein vom Talent her nicht vor den Genannten verstecken müssen. Die Bundestrainerin hat hier ein echtes Luxusproblem.

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In den letzten Monaten wirkte es allerdings häufig so, als würde das DFB-Team mit angezogener Handbremse spielen. Der Kader, mit all seinen Stärken und Schwächen, schreit aber eigentlich danach, die Flucht nach vorn zu suchen.

Deutschland hat bei dieser Europameisterschaft nicht viel zu verlieren. Die Erwartungen sind recht gering, die Spielerinnen betonen selbst seit Monaten, dass das Turnier in England eine Reise ins Ungewisse wird. Wenn sie die komplizierte Gruppe mit den favorisierten Spanierinnen, starken Däninnen und Finnland als große Unbekannte überstehen, ist mit diesem Kader vieles möglich. Es liegt nun an den Spielerinnen und an der Bundestrainerin, das Potenzial auszuschöpfen.

Verwendete Quelle:

  • Spox: Kapitänin Lina Magull im Interview: "Wäre schön, wenn die Verantwortlichen uns regelmäßiger besuchen würden"
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