Hinter Emre Can liegen ereignisreiche und mitunter auch sehr holprige Wochen und Monate. Für Bundestrainer Julian Nagelsmann könnte der BVB-Kapitän nun zum ganz wichtigen Faktor werden.

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Schon Anfang des Jahres sorgte Emre Can im Rahmen der deutschen Nationalmannschaft für Schlagzeilen – jedoch eher unfreiwillig: Der Kapitän von Borussia Dortmund wurde von den Fans zum "Nationalspieler des Jahres" gewählt, und das mit insgesamt 64,6 Prozent der Stimmen.

Was jedoch auch zur Wahrheit gehört: Ganz ernst konnte die Wahl nicht genommen werden, denn das Voting wurde bereits kurz nach dem Start torpediert. Zwei X-Nutzer mit großen Reichweiten riefen spaßeshalber dazu auf, für Can zu stimmen. Und das, obwohl er bei der DFB-Elf beileibe nicht zu den Stammkräften und Leistungsträgern gehörte. Zuletzt war er unter Interimscoach Rudi Völler beim 2:1 im September 2023 gegen Frankreich dabei. Can gewann die Wahl letzten Endes und die Spott-Wahl war perfekt.

Ohnehin war das erste Halbjahr 2024 für Can kein leichtes. Häufig wurde der Mittelfeldspieler als Sinnbild für die verkorkste BVB-Saison in der Bundesliga angesehen. Auch, weil die Leistung des 30-Jährigen häufig zu schwankend – und teils wenig überzeugend – war.

Can wurde zunächst nicht für den DFB-Kader nominiert

Wenig Can-Diskussionen in der Öffentlichkeit gab es deshalb dann auch, als Bundestrainer Julian Nagelsmann im März seinen Kader für die Testspiele gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) bekanntgab. Und das ohne den BVB-Spieler. Vielmehr sorgte das Fehlen von Dortmund-Kollege Mats Hummels und Bayern-Star Leon Goretzka für reichlich Gesprächsstoff. Die Nichtnominierung Cans spielte dabei tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle.

Selbiges im Mai, als Nagelsmann seinen vorläufigen EM-Kader nominierte. Wieder fehlte Can, wieder drehte sich aber fast alles nur um Hummels und Goretzka, die weiterhin fehlten.

Umso mehr sorgte die Nachricht für Erstaunen, die der DFB zwei Tage vor dem EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland bekanntgab: Der erkrankte Aleksandar Pavlovic musste für das Heim-Turnier passen, für ihn rückte – genau – Can in den 26-köpfigen Kader nach. Wieder hatte Goretzka das Nachsehen und auch Rocco Reitz, der zumindest im Trainingslager mit von der Partie war, bekam seine Chance nicht. Dafür aber Can, der plötzlich und völlig überraschend Teil des deutschen EM-Kaders war.

Sein Groll auf Nagelsmann, den er nach seiner ursprünglichen, nur für ihn überraschenden Nicht-Nominierung öffentlich kundgetan hatte, ist vergessen. "Ich war enttäuscht, dass der Julian mich nicht angerufen hat", bekannte Can am vergangenen Wochenende, doch als er den Bundestrainer dann doch noch am Ohr hatte, nahm dieser geschickt die Schärfe raus. Nagelsmann habe ihn gefragt, welcher Anruf ihm wichtiger sei, berichtete Can.

Zu seinem ersten Einsatz kam der 30-Jährige dann auch gleich am vergangenen Freitag beim EM-Start gegen Schottland (5:1), als er von Nagelsmann in der 80. Minute für Toni Kroos eingewechselt wurde. Keine 60 Stunden nach Bekanntgabe der Nachnominierung.

"Ein geiles Gefühl und eine verrückte Story, deshalb lieben wir den Fußball."

Emre Can nach dem Sieg gegen Schottland

Und der Fußball würde nicht Geschichten schreiben, wie es nun mal nur der Fußball kann, wenn Can nicht auch noch getroffen hätte. Nach Vorarbeit von Thomas Müller nahm der 30-Jährige Maß und setzte den Ball aus der Distanz souverän ins untere Eck. Der Schlusspunkt eines torreichen Abends – für Can dürfte es nach all der Kritik, mit der er zuletzt immer wieder zu kämpfen hatte, eine Genugtuung und ein ganz besonderer Treffer gewesen sein.

Der Schlusspunkt des EM-Auftakts: Cans Tor zum 5:1 für Deutschland.
Der Schlusspunkt des EM-Auftakts: Cans Tor zum 5:1 für Deutschland. © IMAGO/Frank Hoermann/SVEN SIMON

"Ein geiles Gefühl und eine verrückte Story, deshalb lieben wir den Fußball. Ich war vor zwei Tagen noch im Urlaub, dann kam am Mittwoch der Anruf. Gestern habe ich einmal trainiert und bin heute reingekommen, habe ein Tor erzielt", sagte der defensive Mittelfeldspieler nach dem Auftaktsieg.

Für Nagelsmann könnte der BVB-Kapitän im Laufe des Turniers noch zum wichtigen Faktor werden. Der Plan des Bundestrainers, einen Spieler mit reichlich Erfahrung und Spielpraxis von der Bank bringen zu können, ging zumindest im ersten Gruppenspiel auf.

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Nächster Can-Auftritt gegen Ungarn?

Auf der Doppelsechs bleiben aber Toni Kroos und Robert Andrich gesetzt – und auch Pascal Groß dürfte weiterhin der erste Ersatzmann sein. Can hat sich jedoch mit seinem Auftritt gegen Schottland für weitere Joker-Einsätze bei dieser Heim-EM empfohlen. "Vieles ist möglich, wir haben extrem viel Qualität und heute mit den Fans im Rücken war das eine geile Nummer", sagte Can. "Wir müssen auf dem Gaspedal bleiben. Der erste Schritt ist gemacht, mehr nicht", sagte er bei MagentaTV.

Den nächsten Schritt kann die DFB-Elf am Mittwoch gehen, wenn das Duell mit Ungarn ansteht. Die haben in ihrem ersten Spiel wenig geglänzt und nicht unverdient gegen die Schweiz verloren (1:3).

Und wer weiß? Vielleicht hat Can durch sein erstes Tor ja jetzt einen Lauf und lässt weitere Treffer bei der EM folgen. Dann wäre der 30-Jährige womöglich wieder ein Kandidat für den "Nationalspieler des Jahres" – in diesem Fall dann wohl aber ganz ohne spöttische Hintergedanken.

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