Die deutsche Nationalmannschaft stolpert im Vorfeld der Heim-EM weiter durch eine sportliche Krise. Dass Ralf Rangnick beim Nachbarn Österreich zeigt, wie man das Potenzial einer Mannschaft herauskitzeln und eine Fußball-Nation euphorisieren kann, weckt Erinnerungen an 2021. Denn da wollte Rangnick Bundestrainer werden. Hat der DFB eine große Chance verpasst?

Eine Analyse
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Ralf Rangnick ließ sich nichts anmerken. Dabei war es eine goldene Gelegenheit, um einen feinen Seitenhieb zu verteilen. Um sich ein bisschen zu rächen. Denn während der 65-Jährige in Österreich eine echte EM-Euphorie entfacht, weil er erfolgreichen und sehenswerten Fußball spielen lässt, irrt Gastgeber Deutschland auf der Suche nach Freude und Form orientierungslos durch die Testspiele, die zunehmend desillusionieren. Doch Rangnick blieb sachlich. Sicher auch, weil ihn mit dem bislang eher glücklosen Bundestrainer Julian Nagelsmann eine gemeinsame Vergangenheit in Hoffenheim und Leipzig verbindet.

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Mitleid mit seinem früheren Weggefährten Nagelsmann hat Rangnick erst recht nicht. "Dafür ist kein Platz, das ist auch das Letzte, was ein Trainer haben möchte", sagte Rangnick nach dem 2:0 im Prestigeduell mit dem Nachbarn. "Deutschland hat genug Einzelspieler-Qualität", erklärte Rangnick: "Am Ende ist es ein Mannschaftssport. Und Julian ist trotz seiner Jugend erfahren und clever genug, um in den letzten vier Testspielen noch an den richtigen Stellschrauben zu drehen." Für ihn sei Deutschland trotz allem eine von "sechs, sieben Mannschaften, denen zuzutrauen ist, dass sie ins Halbfinale kommen."

Schadenfreude bei Rangnick?

Diesen Eindruck vermittelt die deutsche Nationalmannschaft allerdings im Grunde seit 2018 nicht mehr. Zwar wurde zuletzt durch DFB-Präsident Bernd Neuendorf bei "Bild TV" noch das Finale als offizielles EM-Ziel ausgegeben, doch das wirkt durch Auftritte wie gegen die Türkei oder in Österreich geradezu absurd. Da hilft auch der Zuspruch des Gegners nicht. Was Rangnick ebenfalls nicht verspürt beziehungsweise sich nicht anmerken lässt - sollte sie vorhanden sein - ist Schadenfreude. Es wäre ihm nicht einmal zu verdenken. Denn der "Fußball-Professor", wie er nach einem legendären Viererketten-Vortrag im ZDF-Sportstudio 1998 auch genannt wird, hatte sich als Bundestrainer beworben. Und das öffentlich. Und sehr offensiv. Am 10. März 2021 war das.

Das sei "eine Stelle, die niemanden in Deutschland kaltlässt", sagte er damals bei Sky. Er könne sich grundsätzlich alles vorstellen. "Für mich ist es in erster Linie eine Frage des Timings. Im Moment bin ich frei", sagte Rangnick. Zuvor hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) mitgeteilt, dass Joachim Löw nach der EM 2021 aufhört. "Ralf Rangnick würde dem DFB gut tun", lobte Liverpools Trainer Jürgen Klopp damals, er war einer der Wunschkandidaten, sagte aber ab. "Das wäre meine erste Lösung. Er hat zum Glück auch noch Zeit."

Rangnick "eine sehr gute Wahl"

Rangnick ging verbal auch auf den damaligen DFB-Direktor Oliver Bierhoff zu. "Ich könnte mir vorstellen, dass eine Zusammenarbeit mit Oliver Bierhoff sehr fruchtbar wäre. Es wäre hilfreich jemanden zu haben, der die Gepflogenheiten schon kennt", sagte Rangnick. Beim DFB werde "in sehr vielen Bereichen in die richtige Richtung gearbeitet und gedacht".

Wenige Tage später trommelte Klopp nochmals für Rangnick. "Ich halte Ralf Rangnick für einen außergewöhnlichen Trainer, speziell für einen Verband, in dem man seit Jahren versucht, Dinge zu verändern", sagte der Trainer des FC Liverpool in einem von Lothar Matthäus geführten Interview der "Sport Bild". "In Frankfurt gibt es ein neues Headquarter. Ralf könnte da viele Dinge anschieben. Ich halte ihn für eine sehr gute Wahl", sagte Klopp.

Diese Meinung teilten nicht wenige in Deutschland, nur die Verantwortlichen beim DFB nicht. Auf Rangnicks Interesse gingen der damalige Präsident Fritz Keller und Bierhoff öffentlich nicht ein. Schlimmer noch: Es soll nicht einmal Gespräche, geschweige denn eine Kontaktaufnahme gegeben haben. Stattdessen wurde Hansi Flick Löws Nachfolger. Nach dem Sextuple-Gewinn mit dem FC Bayern war das keine überraschende Lösung, vor allem aber war es im Hinblick auf die verkrusteten Strukturen beim DFB eine äußerst bequeme, denn Flick hatte eine DFB-Vergangenheit. Reformer Rangnick wäre die deutlich unbequemere Variante gewesen. Vielleicht aber dafür die bessere?

Kein Stein auf dem anderen

Das ist im Nachhinein zum einen immer leicht zu sagen und daher müßig, doch klar sein dürfte, dass sich viele Dinge verändert hätten. Im Rückblick zeigt sich, dass der deutsche Fußball genau das schon damals gebraucht hätte. Je früher, desto besser wäre es gewesen. Und Rangnick hatte auf seinen Stationen bewiesen, dass er mit Stars umgehen, aber Talente auch heranführen und weiterentwickeln kann.

Mit Innovationen und Visionen, gepaart mit einer eigenen Fußball-Philosophie, hätte er beim DFB wohl keinen Stein auf dem anderen gelassen. Der Verband benötigte neue Perspektiven, den Schulterschluss mit den Fans, eine neue Richtung. Rangnick hätte dem deutschen Fußball womöglich eine Frischzellenkur auf vielen Ebenen, bis hinunter in die U-Mannschaften, verpasst. Teilweise sind das Dinge, die man bis heute noch nicht vorangetrieben hat. Der DFB war als Gesamtkonstrukt schon immer ein unbeweglicher Tanker, bei dem Prozesse und Strukturen dringend verschlankt werden müssen, um ihn manövrierfähiger zu machen.

Das Problem: Solche Neuerungen von Grund auf sind mit Arbeit, mit Herausforderungen und auch schmerzhaften (personellen) Entscheidungen verbunden. Darauf hatten die Verantwortlichen offenbar wenig Lust. Rangnick selbst gilt als fordernd und unbequem, was eine sowieso schon unbequeme Reformarbeit und Modernisierung womöglich noch anstrengender gemacht hätte. Ein Perfektionist wie Rangnick hätte einigen Menschen wahrscheinlich auf die Füße getreten. Vielleicht wäre aber genau das der nötige Ansatz und Weg gewesen.

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Den ÖFB umgekrempelt

Das Schöne bei der theoretischen Betrachtung: Man kann sich beim Nachbarn aus nächster Nähe anschauen, was Rangnick in relativ kurzer Zeit erreichen kann. Als er bei den Österreichern Ende Mai 2022 übernahm, hatten David Alaba und Co. gerade unter Vorgänger Franco Foda die WM in Katar verpasst. In der Quali-Gruppe reichte es nur zu einem enttäuschenden vierten Platz, in den Playoffs, die man über die Nations League erreicht hatte, war gegen Wales Endstation.

Daneben waren Fans und Mannschaft von der abwartenden Spielweise unter Foda angeödet. Parallelen zu Deutschland sind also zu erkennen. Der ÖFB holte Rangnick, der als früherer Red-Bull-Mann (Salzburg und Leipzig) ein nicht ganz unumstrittenes Standing in der Alpenrepublik genießt. Skepsis war da, was auch an Rangnicks Staatsangehörigkeit lag. Vor allem Legenden wie Hans Krankl wetterten, er bezeichnete Rangnick gar als "arrogant".

Doch Rangnick sah vor allem den Reiz der Aufgabe und das sportliche Potenzial. Und kitzelte es heraus, ließ die Spieler von der Leine, implementierte einen mutigen, von Pressing geprägten Offensiv-Fußball. Unter Rangnick setzte es in der Nations League in sechs Spielen zwar zunächst vier Niederlagen. Bezeichnend war dabei die Episode, als Rangnick nach einem 1:1 gegen Frankreich moserte, er sei mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Glückwünsche zum Remis konterte er mit der Frage, was es denn zu gratulieren gebe. Immerhin ein Punkt gegen Weltmeister Frankreich, so die Antwort. "Warum immerhin?", entgegnete Rangnick. Es herrscht unter ihm ein neues Selbstverständnis, sein Optimismus und Ehrgeiz sind ansteckend. "Warum soll das, was in Ländern wie der Schweiz, Belgien und Kroatien möglich ist, nicht auch in Österreich möglich sein?", fragte er. Ja, warum eigentlich nicht?

Schnelle sportliche Wende

Die sportliche Wende folgte rasch. Seit November 2022 haben die Österreicher von zwölf Länderspielen neun gewonnen und nur eines verloren. Die Qualifikation erfolgte in einer Gruppe mit Belgien, Schweden, Aserbaidschan und Estland als Zweiter. Seinen Drang, Dinge im Verband zu reformieren und zu verändern, begrüßen sie nach anfänglichen Widerständen inzwischen. Denn die Erfolge können sich sehen lassen. Und Siege wie gegen Deutschland treiben die Euphorie noch einmal zusätzlich an. Gerade dann, wenn der Nachbar auch noch solche Probleme hat, obwohl die mögliche Lösung doch greifbar war. Die Schadenfreude bei den österreichischen Fans ist deshalb groß. Rangnick lässt sich trotzdem nichts anmerken. Er lässt die Ergebnisse für sich sprechen.

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