Titelverteidiger Deutschland startet mit bescheidenen Testspiel-Ergebnisse etwas vorbelastet in die WM 2018 in Russland. So stehen die Titel-Chancen des deutschen Teams und seinen möglicherweise ärgsten Konkurrenten.

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Von der ganz großen Euphorie ist weder in Russland noch in Deutschland bisher viel mitzubekommen. Heute startet das größte Sportereignis des Jahres - und kaum jemand bekommt es bisher so richtig mit.

Erst wenn es Richtung Wochenende geht und die deutsche Nationalmannschaft ins Geschehen eingreifen wird, dürfte das Kribbeln zunehmen.

Zumal die erste Partie des Titelverteidigers gleich dreifach von Bedeutung sein wird. Der Start in ein Turnier ist immens wichtig, nach den schwachen Tests zuletzt ist es eine Standortbestimmung auf Wettkampfniveau und vor allem muss der Weltmeister gleich mal ein Zeichen setzen an die Konkurrenz: Dass auch in diesem Jahr der Weg zum Titel nur über Deutschland führen kann.

Brasilien mit einem überragenden Gesamtpaket

Denn (Mit-)Favoriten gibt es auch in Russland mehr als genug. Niemand sollte sich zum Beispiel noch von jenem epischen 7:1 Deutschlands über Brasilien blenden lassen.

Die Selecao von damals mag im Kern noch zusammen sein, trotzdem wird sich in Russland eine völlig andere Truppe präsentieren als die von Pathos und Nationalstolz getragene Ansammlung an Einzelspielern beim Turnier im eigenen Land.

Grund dafür ist Nationaltrainer Tite, der eine funktionierende Mannschaft gebastelt hat.

Brasilien ist wie eigentlich immer gerade in der Offensive absolut überragend besetzt, mit Spielern wie Willian, Roberto Firmino, Philippe Coutinho, Taiso, Douglas Costa oder Gabriel Jesus.

Und natürlich dem Überspieler Neymar. Der Superstar ist nach monatelanger Verletzungspause rechtzeitig wieder fit und hat in den Testspielen gegen Kroatien und Österreich schon angedeutet, auf was sich die gegnerischen Abwehrspieler gefasst machen sollten.

Der heimliche Star der Mannschaft ist aber ihr Trainer. Tite hat die Selecao vor rund zwei Jahren übernommen, nachdem die Truppe erst die WM und dann die Copa America gegen die Wand gefahren hatte und einen kompletten Neuanfang benötigte.

Seitdem hat Brasilien ein einziges Spiel verloren, im Gegenzug aber 17 gewonnen. Brasilien hat ein tragfähiges Defensivkonzept und so viel Offensivpower, dass jeder Gegner der Welt binnen Minuten auseinandergespielt werden kann.

Frankreich ...

Ähnlich verhält es sich mit Frankreich, neben Deutschland der zweite Topfavorit aus Europa. Die Equipe Tricolore bringt mit Ousmane Dembele, Antoine Griezmann und Kylian Mbappe drei Weltklasse-Angreifer mit nach Russland, dazu funktionieren das Defensivverhalten und die Disziplin innerhalb der Mannschaft.

Frankreich bringt ein ausgewogenes Gesamtpaket aus spielerischer Leichtigkeit und körperlicher Robustheit mit, gerade im Mittelfeld sind die Franzosen mit ihren kraftvollen, laufstarken Spielern sehr schwer zu bespielen.

... oder doch Spanien?

Spanien ist ein Favorit, der nicht so sehr in der ersten Linie genannt wird - aufgrund seiner Qualität und Mentalität aber auf alle Fälle zu beachten sein sollte.

Doch kurz vor Turnierstart schlug die Nachricht der Entlassung von Trainer Julen Lopetegui wie eine Bombe ein. Der ehemalige U21-Erfolgscoach Lopetegui hatte den dringend benötigten Umbruch eingeleitet und sanft moderiert. Einen Tag nach der Bekanntgabe seines Wechsels zu Real Madrid nach der WM entließ ihn der spanische Verband.

Nach dem Trauma vor vier Jahren mit dem Aus nach der Gruppenphase und einer enttäuschenden EM zwei Jahre später gab es ähnlich wie in Brasilien auch bei den Iberern einen radikalen Paradigmenwechsel auf der Bank.

Alte Haudegen wie Sergio Ramos, Andres Iniesta, Sergi Busquets oder David Silva leiten die jungen Wilden an, Alaro Odriozola, Saul Niguez oder Marco Asensio.

Spaniens Mischung ist brandgefährlich, das haben die letzten beiden Jahre mit Lopetegui, gezeigt: Von 20 Spielen hat die Furia Roja 14 gewonnen und kein einziges verloren.

Doch die Unruhe um die Trainerentlassung wird sich sicher nicht positiv auf die Leistung der Iberer auswirken. Außer, "Notnagel" Fernando Hierro schreibt sein eigenes WM-Märchen.

Messi muss Argentinien retten

Und dann gibt es natürlich noch Messis Argentinien. In der Qualifikation war das Ende schon sehr nahe, erst ein Kraftakt des Superstars rettete die Albiceleste doch noch zum Endturnier nach Russland.

Das Problem bleibt die Unwucht zwischen Offensive und Defensive: Argentinien stellt wohl noch vor Brasilien die besten Offensivspieler des Turniers, zumindest auf dem Papier.

Lionel Messi, Paulo Dybala, Angel di Maria, Sergio Agüero und Gonzalo Higuain sind auf ihren Positionen mit das Beste, was der Weltfußball zu bieten hat. Dagegen fällt die Defensive deutlich ab, auch im Tor hinkt die Qualität den Top-Standards deutlich hinterher.

Und Trainer Jorge Sampaoli hat es bisher noch nicht geschafft, diesen Missstand durch ein funktionierendes taktisches Konzept in den Griff zu bekommen. Und die Gruppe mit Island, Kroatien und Nigeria ist schwer genug. Aber: Argentinien hat den besten Spieler der Welt in seinen Reihen, der eine ganze Nation mitreißen kann.

DFB-Team mit Hoffnung und Problemen

Und Deutschland? Hat sich zuletzt mit einigen Problemen beladen, die Özil-Gündogan-Causa, der Neuer-Fuß, die ziemlich verhunzten Testspiele. Neben Neuer war Jerome Boateng länger verletzt, die Form beider Eckpfeiler der Defensive ist schwer einzuschätzen.

Eine Schwachstelle bleiben die Außenverteidiger. Joshua Kimmich und Jonas Hector sind in der Offensive absolute Waffen, in der Rückwärtsbewegung aber nicht immer auf höchstem Niveau zuverlässig.

Deutschlands Mittelfeld dürfte das Prunkstück der Mannschaft sein, mit den erfahrenen Toni Kroos Sami Khedira und Mesut Özil als Ankerpunkte, sowie Ilkay Gündogan als Mann für alle Fälle.

Thomas Müller und vor allen Dingen Marco Reus könnten sogenannte "Dark Horses" werden, also Spieler, die derzeit schwer einzuschätzen sind, beim Turnier dann aber förmlich explodieren.

Müller war zuletzt ein gutes Stück entfernt von seiner Bestform, Reus spielt nach zwei verpassten Gelegenheiten endlich mal wieder ein Turnier. Im Angriff ist Timo Werner ein Versprechen, hat aber noch nicht auf Topniveau gegen die Allerbesten sein Können zeigen dürfen.

Joachim Löw hat immer noch eine ungeheuer talentierte Mannschaft zusammen, mit einer auf dem Papier sehr guten Mischung aus Weltmeistern und solchen, die es erst noch werden wollen.

Es bleiben aber einige Fragezeichen: Hat die Mannschaft noch den Biss, den großen Erfolg von 2014 zu wiederholen? Wie geht die Mannschaft mit der Rolle des Gejagten um? Gibt es ohne Schweinstgeiger, Lahm, Mertesacker oder Klose wieder eine funktionierende Hierarchie?

Deutschland ist wie fast immer einer der Topfavoriten und hat oft genug bewiesen, dass es eine formidable Turniermannschaft ist, die auf den Punkt topfit und voll da ist. Auch wenn zuletzt darauf nur wenig hingedeutet hat.


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