Redet die Union die deutsche Wirtschaft schlecht? Jens Spahn findet eher: "Die Schönredner sind gerade Kern des Problems." Im Interview mit unserer Redaktion spricht der CDU/CSU-Fraktionsvize über die hartnäckige Inflation, das Bürgergeld – und seine geringe Lust auf eine Koalition mit den Grünen.

Ein Interview

Mit 43 Jahren gehört Jens Spahn immer noch zu den Jüngeren im Politikbetrieb. Dabei war er schon vieles: CDU-Nachwuchsstar, Finanz-Staatssekretär, Bundesminister für Gesundheit und damit oberster Corona-Krisenmanager. Jetzt ist Spahn als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion Hauptwidersacher von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck.

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Und er ist weiterhin rastlos. Zum Interview mit unserer Redaktion kommt er fast genau pünktlich in sein Büro – und muss genauso pünktlich danach auch zum nächsten Termin.

Herr Spahn, in Thüringen hat die CDU mit den Stimmen von FDP und AfD eine Steuersenkung durchgesetzt. Wird es künftig öfter zu solchen Abstimmungen kommen?

In Thüringen hat die rot-rot-grüne Minderheitsregierung keine Mehrheit im Landtag. Das ist eine außergewöhnliche Situation. Die CDU kann ihre Positionen weder von Rot-Rot-Grün noch von der AfD abhängig machen. So hat die CDU in Thüringen gehandelt – und das finde ich in Ordnung. Im Übrigen sieht das selbst der SPD-Kanzler so.

Der Historiker Andreas Rödder, Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission, schlägt Minderheitsregierungen der CDU im Osten vor – auch wenn die dann auf Stimmen der AfD angewiesen sind. Wie finden Sie das?

Unser Ziel ist klar: Die CDU tritt bei Wahlen an, um anschließend eine Regierung mit einer stabilen Mehrheit im Parlament bilden zu können. Das ist auch das Ziel von Mario Voigt in Thüringen. Seine Zielmarke für die Landtagswahl im nächsten Jahr ist eine Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und FDP.

Aus heutiger Sicht hätte so eine Koalition aber keine Mehrheit im Thüringer Landtag.

Das stimmt – aber für diese Mehrheit kämpft Mario Voigt mit seiner CDU in Thüringen jeden Tag. Nicht Umfragen zählen, sondern Wahlergebnisse.

Die Grünen wollen Sie aber nicht dabeihaben?

Die Grünen sind Teil der demokratischen Mitte. Aber wir sehen, dass zwei Parteien gerade besonders polarisieren: die AfD und die Grünen. Über diese Parteien sagen jeweils rund 50 Prozent der Bevölkerung: Die würde ich niemals wählen. Das passt auch zu den zwei Themen, die die Gesellschaft am stärksten polarisieren: Migration und Klimaschutz. Da vertreten AfD und Grüne jeweils die polarisierendsten Positionen. Der Auftrag der demokratischen Mitte besteht aber darin, die Gesellschaft zusammenzuführen und zusammenzuhalten.

"Auf Bundesebene haben die Grünen ihren Vorrat an Pragmatismus aktuell aufgebraucht."

Jens Spahn

Ist das auch eine Absage an Schwarz-Grün auf Bundesebene nach der nächsten Wahl?

Ich sehe jedenfalls keinen Automatismus für Schwarz-Grün im Bund. In Hessen oder NRW kann man mit pragmatischen Grünen auch Autobahnen und Flughäfen ausbauen, da kann man gut mit ihnen regieren. Auf Bundesebene haben die Grünen ihren Vorrat an Pragmatismus aktuell aufgebraucht.

Wenn man sich in Europa umschaut, haben viele christdemokratische oder konservative Parteien einen deutlichen Rechtskurs eingeschlagen. In Frankreich, Großbritannien, Österreich beispielsweise. Steht das jetzt auch für die Union in Deutschland an?

Vor allem sind einige christdemokratische oder bürgerliche Parteien in Europa fast verschwunden. Die stabile demokratische Mitte in Deutschland ist ein Qualitätsmerkmal. Es ist der Auftrag und der Wille der Union, eine integrierende Kraft in die Mitte auszuüben. Dafür müssen wir auch Problemfelder wie die Migration klar benennen, bearbeiten und lösen. Irreguläre Migration muss gestoppt werden, nicht auf dem Papier, sondern in der Realität. Das ist das wirksamste Mittel gegen Wahlerfolge von Populisten und Rechtsradikalen.

Jens Spahn: "Wir erleben gerade mehr als eine Rezession"

In der Wirtschaftspolitik haben Sie sich für mehr Angebotsorientierung ausgesprochen. Heißt das: Mehr Markt, weniger Soziales?

Es heißt vor allem: Standortpolitik betreiben, damit Deutschland für Investitionen attraktiv ist. Was wir gerade erleben, ist mehr als eine Rezession, es ist ein strukturelles Problem. Das Potenzialwachstum – also das, was bei Vollauslastung möglich wäre – liegt nur noch bei 0,4 Prozent. Das ist viel zu wenig. Deutschland ist das einzige große Industrieland weltweit, dessen Wirtschaftsleistung schrumpft.

Der Kanzler warnt davor, den Standort schlechtzureden.

Auch Robert Habeck hat sich so geäußert. Ich finde: Die Schönredner sind gerade Kern des Problems. Die Ampel verweigert eine ehrliche Bestandsaufnahme über die wirtschaftliche Lage. Sowohl der Kanzler als auch der Vizekanzler verschließen die Augen vor der Wirklichkeit.

Was schlägt die Union vor?

Wir müssen alles tun, was den Standort stärkt. Das heißt: Steuern auf Gewinne, die im Unternehmen bleiben, auf maximal 25 Prozent deckeln. Außerdem müssen die Energiekosten runter. Die Wirtschaft braucht ein Belastungsmoratorium. Das bedeutet auch: keine neue Regulierung mehr aus Brüssel für mindestens drei Jahre.

Auch die Bundesregierung will die Energiekosten senken. Im Gespräch ist ein subventionierter Brückenstrompreis für die Industrie.

Wir sind bereit darüber zu reden. Bis heute weiß aber niemand, was die Bundesregierung eigentlich will. Die SPD-Fraktion möchte gerne, die FDP sagt nein und der Kanzler schweigt. So wird wieder einmal Unsicherheit verbreitet und in der Zwischenzeit investiert niemand. Deswegen möchte ich erstmal ein Konzept der Ampel sehen, das in eine Industriestrategie eingefügt ist. Und im ersten Schritt sollten über die Stromsteuer die Stromkosten für alle gesenkt werden.

Wie wollen Sie Energie günstiger machen?

Die Stromsteuer muss sinken, ebenso die Netzentgelte. Und: Wir müssen das Angebot ausweiten, also die drei Kernkraftwerke wieder ans Netz zu nehmen. Um die Versorgungssicherheit jederzeit zu gewährleisten, braucht es zusätzlich 30 bis 50 Gaskraftwerke bis 2030. Eines zu bauen, dauert fünf bis sechs Jahre. Es wird Zeit, dass Energieminister Robert Habeck in die Gänge kommt – sonst ist er dafür verantwortlich, dass unser Strom auch in Zukunft zu großen Teilen aus dreckiger Kohle kommt.

Ist die Schuldenbremse eine Investitionsbremse?

Nein.

Es gibt namhafte Ökonomen, die das anders sehen. Und auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, immerhin CDU-Mitglied, hat sich so geäußert.

Es gibt auch namhafte Ökonomen, die die Schuldenbremse richtig finden. Sie steht in der Verfassung, ist also nicht beliebig. Was oft übersehen wird: Schuldenbremse heißt nicht null Schulden. Sie ist, je nach konjunktureller Lage, flexibel. Das sieht man daran, dass der Finanzminister weiter Schulden macht.

"Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich passt nicht in die Zeit"

Wie würde eine unionsgeführte Bundesregierung auf die hohe Inflation reagieren?

Wir müssen alles tun, was die Inflation dämpft. Dazu gehört auch, die Entlastung der Verbraucher bei den Energiekosten zu verlängern. Die Bundesregierung erwägt, die Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas zum Jahreswechsel vorzeitig auslaufen zu lassen. Wir wissen aber nicht, ob es wieder zu einem Anstieg der Strom- und Gaspreise kommt. Laufen die Hilfen aus, wirkt das wie eine Steuererhöhung – und es treibt die Inflation. Das würde das Heizungschaos der Ampel fortsetzen und muss verhindert werden.

Sind auch die Gewerkschaften im Kampf gegen die Inflation gefordert, Stichwort Lohnzurückhaltung?

Ein Durchschnittsverdiener hat durch die Inflation inzwischen 400 bis 500 Euro weniger im Monat. Das ist eine heftige Zahl – und der größte Wohlstandsverlust in der jüngeren Geschichte. Es ist verständlich, dass die Tarifparteien hier für Ausgleich sorgen wollen. Und ich finde, die Lohnabschlüsse passen dazu.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Zinsen zuletzt deutlich erhöht. Besteht die Gefahr, dass die Konjunktur in Deutschland komplett abgewürgt wird?

Die EZB ist unabhängig und macht ihren Job: für Preisstabilität sorgen. Der Staat kann die Konjunktur durch Fiskalpolitik stützen – das tut die Ampel aber nicht. Eine Allensbach-Umfrage hat gerade gezeigt: 70 Prozent glauben nicht, dass Deutschland auch in zehn Jahren noch eine starke Wirtschaftsnation ist. Die Menschen spüren, dass es in die falsche Richtung geht – nur Kanzler und Vizekanzler leben in ihrer eigenen Welt.

Bräuchte es einen Mentalitätswechsel, einen neuen Ruck, der durchs Land geht?

Was auf jeden Fall nicht in die Zeit passt, ist der Wunsch einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Fakt ist doch: Seit Jahren steigt die Produktivität nicht mehr. Wir arbeiten im Jahr 300 Stunden weniger als die Schweizer – und die Schweiz ist kein Land, das für Ausbeutung bekannt ist. Weniger Arbeiten bei gleichem Lohn ist in einer Rezession nicht die Lösung und dafür haben die Deutschen auch ein gesundes Empfinden.

Das Bürgergeld soll im kommenden Jahr auf 563 Euro im Monat steigen, was die Union kritisiert. Kann man von diesem Betrag gut leben?

Man kann damit keine großen Sprünge machen – schließlich ist das Bürgergeld als soziale Grundsicherung gedacht. Für diejenigen, die wegen einer Erkrankung, Behinderung oder schwierigen Lebensphase nicht arbeiten können, ist das Plus von zwölf Prozent völlig angemessen. Das ist nicht der Punkt.

Sondern?

Es geht um Menschen, die arbeiten könnten, aber Angebote ausschlagen. Bei denen müsste der Staat stärker kürzen als bisher. Das ist eine Frage von Fairness gegenüber denen, die aufstehen und arbeiten gehen. Wir brauchen überall Arbeitskräfte: in der Gastronomie, als Zeitungsausträger oder bei der Gepäckabfertigung am Flughafen. Wer arbeiten kann, sollte arbeiten.

Das Plus beim Bürgergeld soll doch die Belastungen durch die Inflation ausgleichen.

Diese Inflationsanpassung ist aber höher als in anderen Bereichen. Die Löhne sind nicht so stark gestiegen und das steuerliche Existenzminimum auch nicht. Deswegen müssen wir uns schon fragen, ob diese Erhöhung das richtige Signal in dieser Zeit ist. Auch die Arbeiterpartei SPD muss sich fragen, ob sie Arbeit noch genug wertschätzt. Deren Gründervater August Bebel hat mal etwas gesagt: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Das würde heute niemand mehr genau so sagen oder wollen. Aber der Grundgedanke bleibt ja richtig: Arbeit muss einen Unterschied machen. Die heutige SPD scheint den Wert von Arbeit vergessen zu haben.

Zur Person

  • Jens Spahn wurde 1980 in Ahaus im Münsterland nahe der niederländischen Grenze geboren. 1995 wurde er Mitglied der Jungen Union, 1997 der CDU. Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und studierte danach Politikwissenschaft. 2002 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt, wo er 2009 bis 2015 gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion war. 2015 bis 2018 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und 2018 bis 2021 Bundesgesundheitsminister. Inzwischen ist Spahn als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Wirtschaftspolitik zuständig.
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