• Linke-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch will einen NATO-Austritt Deutschlands nicht zur Bedingung für Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl machen.
  • Zentrale Wahlversprechen könnten SPD und Grüne niemals mit Union und FDP umsetzen, meint Bartsch.
  • Im Interview mit unserer Redaktion spricht der 63-Jährige außerdem über Sahra Wagenknecht und seine Mitgliedschaft in der SED.
Ein Interview

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Herr Bartsch, was macht Sie bei Umfragewerten knapp über der Fünf-Prozent-Hürde so sicher, dass die Linke wieder in den Bundestag einzieht?

Dietmar Bartsch: Unsere Umfragewerte sind nicht da, wo ich sie gerne hätte. Trotzdem bin ich sicher, dass wir auf dem Weg zur Wahl noch eine Menge unentschlossene Wähler für unser Programm begeistern können. Wir sind die Partei für soziale Sicherheit, Anwältin der wahren Leistungsträger – der Krankenschwester, des Paketboten, des Busfahrers. Zudem stehen nur wir für eine Klimapolitik, die wirksam ist und bei der die explodierenden Kosten nicht auf Geringverdiener, Mieter und Rentner abgewälzt werden. Es gibt eine Wechselstimmung in Deutschland, aber ein echter Politikwechsel klappt nur mit der Linken.

Die Umfragen legen eine Wechselstimmung nahe. Die Wählerinnen und Wähler scheinen allerdings nicht überzeugt davon zu sein, dass es für einen Wandel die Linke braucht.

Ich werbe nicht für ein Bündnis, sondern für eine starke Linke. Was passiert, wenn Rot-Grün regiert, haben wir ja schon vor einer Weile gesehen: Das war die Zeit, in der die Hartz-IV-Gesetzgebung und der unsinnige Afghanistan-Einsatz beschlossen worden sind. Überhaupt ist es doch paradox: Die SPD war von den vergangenen 23 Jahren 19 an der Regierung beteiligt und spricht nun plötzlich über Renten, die stabilisiert werden müssen – obwohl sie seit Jahren selbst das Ressort verantwortet, das für die Stabilität der Renten sorgen soll. Altersarmut ist so richtig erst mit der SPD entstanden. Wer Probleme wie Altersarmut und einen höheren Mindestlohn wirklich angehen will – und das nicht nur in sein Wahlprogramm schreibt, weil es gut klingt – für den ist die Linke der richtige Partner. Wir wollen zum Beispiel eine Rentenreform ähnlich wie in Österreich. Da sind die Renten durchschnittlich 800 Euro höher, weil alle einzahlen – auch Politiker, Selbständige und Beamte. Wenn Österreich das kann, können wir das auch.

Wäre Olaf Scholz denn der richtige Partner, um die sozialen Fragen im Sinne Ihrer Partei anzugehen?

Falls er und auch Frau Baerbock es mit ihren Wahlkampfversprechen ernst meinen, dann ja. Wenn die SPD den Mindestlohn wirklich erhöhen will, wird sie das mit der FDP niemals hinbekommen. Wenn die SPD wirklich eine höhere Besteuerung auf hohe Einkommen und riesige Vermögen umsetzen will, wird das mit der FDP nichts. Wenn die Grünen eine Kindergrundsicherung wollen, dann mit Sicherheit nicht mit Union und FDP. Auch eine Bürgerversicherung, die allen eine solide Gesundheitsversorgung bietet, wird mit Laschet und Lindner nichts.

Die Wahlprogramme von Linkspartei und SPD liegen in vielen Punkten tatsächlich sehr dicht beieinander. Bleibt noch das böse N-Wort.

Sie meinen NATO.

Ja.

Das ist eben im Moment das Geschäft der Konservativen, ungefähr 17-mal pro Tag "NATO" zu rufen. Die haben die nackte Angst vor dem Machtverlust. Gut so! Ich kann dazu sagen: Die gescheiterte Interventionspolitik in Afghanistan hat gezeigt, dass sich selbst nach 20 Jahren Demokratie nicht exportieren lässt. Sie hat auch zehntausende Zivilisten und 59 Soldaten der Bundeswehr das Leben gekostet. Sie war 13 Milliarden Euro teuer. Das sollte dazu führen, dass wir die deutsche Außenpolitik grundlegend überdenken. Ich glaube nicht, dass deutsche Waffenexporte etwa nach Pakistan oder Katar, Staaten mit engen Beziehungen zu den Taliban, irgendetwas zur Friedenssicherung beitragen.

Eine klare Ansage: Macht die Linke Deutschlands Austritt aus der NATO zur Bedingung für eine mögliche Koalition?

Nein. Wir werden nach der Wahl sicher nicht sagen: Bevor wir überhaupt sondieren, muss Deutschland aus der NATO austreten. So funktioniert Politik nicht. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: 1998 wollten die Grünen in ihrem Wahlprogramm die "NATO auflösen". Meinen Sie, Schröder hat Bekenntnisse von Fischer verlangt? Es geht hier nicht um die Sache, sondern einzig darum, die Linke bei Wählern mies zu machen. Viele durchschauen das aber. Ich sage klar: Das irrwitzige Zwei-Prozent-Ziel der NATO – jedes Jahr 80 Milliarden für Rüstung verbrennen – gibt es mit uns nicht, das muss revidiert werden. Falls es nach der Wahl Gespräche gibt, werden wir unsere Programme nebeneinander legen, uns über Gemeinsamkeiten freuen und über Unterschiede diskutieren. Dann müssen sich alle Verhandlungsteilnehmer von manchen Idealvorstellungen lösen, das gilt auch für die Linke.

Sie lehnen Waffenexporte und auch Wirtschaftssanktionen ab: Wie wollen Sie auf Aggressoren wie Wladimir Putin reagieren, der die Krim annektiert hat und in der Ostukraine einmarschiert ist?

Kürzlich war der 80. Jahrestag des Überfalls von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion. Allein deshalb wäre ich mit der Theorie, wir müssten militärische Stärke gegenüber Russland zeigen, sehr zurückhaltend. Auch meine Partei kritisiert die Politik Putins, etwa die völkerrechtswidrige Annexion der Krim oder den Umgang mit Homosexuellen in Russland. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass eine Friedens- und Abrüstungspolitik nur unter Einbeziehung von Russland funktionieren kann. Noch mehr Waffen in der Welt werden dabei sicher nicht helfen. Wer es gut findet, dass weltweit alle 14 Minuten ein Mensch durch eine in Deutschland produzierte Waffe stirbt, der soll das gut finden. Als Linke tun wir das nicht.

Den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr haben Sie hinlänglich kritisiert. Ihre Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow hat im Gespräch mit unserer Redaktion gesagt: “Es hat kein deutscher Soldat mit einer Waffe in der Hand etwas im Ausland zu suchen.” Würden Sie das so unterschreiben?

Die Bundeswehr soll ihre grundgesetzliche Aufgabe, nämlich die Landesverteidigung, wahrnehmen. Ich halte es allerdings für falsch, wenn jemand sagt: Deutschland wird am Hindukusch verteidigt. Denn wenn das so wäre, dann hat Deutschland jetzt gerade am Hindukusch alles verloren. Dort ist mit den Taliban eine rückständige, feudalistische Truppe wieder an der Macht. Die Debatte, die wir nun über Sinn und Unsinn des Afghanistan-Einsatzes führen, werden wir bald auch über den Bundeswehreinsatz in Mali führen. Als Linke sind wir klar gegen Kampfeinsätze. Trotzdem diskutieren wir natürlich jedes Mandat neu. Als im Bundestag über den Einsatz in Syrien debattiert wurde, bei dem die Chemiewaffen von Herrn Assad zerstört werden sollten, habe ich zum Beispiel für diesen Einsatz gestimmt.

Dass Ihre Partei Kampfeinsätze der Bundeswehr prinzipiell ablehnt, gehört zur Linken-DNA. Kürzlich aber hat sich Ihre Fraktion sogar bei der Abstimmung zum Rettungseinsatz in Afghanistan mehrheitlich enthalten.

Wir haben bereits vor Monaten selbst einen Antrag gestellt und auch wie die FDP einem Antrag zur Evakuierung der Grünen zugestimmt. Die große Koalition hat sich zusammen mit der AfD dem verweigert. Als es um das aktuelle Mandat ging, sollte der Bundestag darüber abstimmen, als der Einsatz bereits beendet war. Ich habe an dem Tag stellvertretend für meine Fraktion den Soldatinnen und Soldaten gedankt, die unter Einsatz ihres Lebens dort Leute rausgeholt haben. Trotzdem war das ein schludrig formuliertes Mandat, das im Übrigens wie in keinem anderen Land noch bis zum 30. September läuft. Das war in der Form nicht zustimmungsfähig, weil es um die Ortskräfte gar nicht ging, sie waren nicht einmal benannt. Sie wurden ein zweites Mal und nun ganz offiziell im Stich gelassen. Das nicken wir nicht ab. Wir waren mit den Grünen am frühzeitigsten und entschiedensten für eine Evakuierung von Ortskräften und allen Menschen, die durch die Taliban-Herrschaft bedroht sind.

Politiker der anderen Parteien haben der Linkspartei nach der Abstimmung dennoch die Regierungsfähigkeit abgesprochen.

Wir haben uns bei der Abstimmung zu einem schlecht formulierten Mandat, das zu dem Zeitpunkt real bereits beendet war, enthalten. Das kann man von mir aus kritisieren, aber dann bitte mit Argumenten, die auch zutreffen. Dass wir nicht evakuieren wollten, ist schlicht eine Lüge. Die Lüge – und das finde ich positiv – hat aber weder die Parteiführung der Grünen noch die der SPD aufgegriffen.

Interne Querelen haben den Weg der Linkspartei schon oft geprägt. In den vergangenen Wochen trat Ihre Partei hingegen erstaunlich geschlossen auf. Hält der Frieden bis zur Wahl?

Ja, wir hatten lange mit Auseinandersetzungen zu kämpfen, die nichts mit Inhalten zu tun hatten. Da ging es um Machtpolitik. Das ist zum Glück vorbei. Zudem haben wir leider sehr spät eine neue Parteiführung gewählt. Aber jetzt kämpfen wir gemeinsam. Deswegen waren zum Beispiel Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi kürzlich zu Besuch in meinem Wahlkreis. An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal sagen: Ich bin sehr froh, dass dieses irre Parteiausschlussverfahren gegen Sahra beendet worden ist. Das hat sehr geschadet.

Sie haben sich mit Frau Wagenknecht über mehrere Jahre den Fraktionsvorsitz im Bundestag geteilt. Was schätzen Sie an ihr?

Sahra ist zu 100 Prozent verlässlich. Sie hat eine klare Meinung und vertritt diese sehr bestimmt. Damit eckt sie manchmal an, in der Öffentlichkeit wie auch innerhalb unserer Partei. Dennoch freue ich mich, dass sie in diesem Wahlkampf so aktiv ist und als Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen antritt. Die Linke ist eine pluralistische Partei, in der unterschiedliche Meinungen selbstverständlich erlaubt sind.

Dann dürften Sie ja an Frau Wagenknechts aktuellstem Buch, in dem sie einige konträre Positionen zur Parteilinie einnimmt, nichts auszusetzen haben.

Ich lese darin, auch wenn das in vielen Rezensionen stand, keine Abrechnung mit unserer Partei, sondern mit der politischen Linken als Ganzes. Das trifft die Sozialdemokraten ebenso. Warum wählen uns diejenigen, die wir in besonderer Weise vertreten wollen – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie aus der Gesellschaft Ausgegrenzte – nicht mehr in so großer Zahl wie früher? Das ist eine zulässige Frage, die neben anderen in dem Buch behandelt wird. Ihr Buch ist ein Beitrag zu einer Diskussion, die ich als wichtig ansehe, auch wenn ich nicht alles teile.

Das sah die AfD genauso und hat mit Frau Wagenknecht Wahlwerbung gemacht.

Ich fand das eine Unverschämtheit, gegen die Sahra Wagenknecht juristisch vorgeht. Die AfD ist eine rassistische Partei, die in besonderer Weise für die Superreichen agiert. Sahra, ich und die gesamte Linke kämpfen darum, dass diese Partei bei der Bundestagswahl so wenige Stimmen bekommt wie möglich.

Sie sind in der DDR geboren und sozialisiert, waren 23 Jahre lang Mitglied der SED. Wie hat Sie das geprägt?

Ich stamme aus einer ländlichen Gegend in Vorpommern und habe die Chance auf ein Studium bekommen, obwohl meine Eltern aus ärmlichen Verhältnissen kommen. Dafür bin ich dankbar und natürlich hat mich das geprägt. Ich hatte als Heranwachsender viele Möglichkeiten, mich zu entwickeln und zu lernen. Die DDR ist trotzdem zu Recht gescheitert, und zwar nicht nur an der Unfreiheit der Menschen und ökonomischen Faktoren. Und wenn ich zurückblicke auf den Dietmar Bartsch der Wendezeit, fallen mir viele Dinge ein, die ich an ihm kritisieren würde.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Sowohl in der DDR wie auch in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung fand ich beim Thema Gleichstellung eine Frauenquote schwachsinnig. Das sehe ich heute komplett anders. Oder die Tatsache, dass ich es wirklich richtig fand, dass eine einzige Partei aufgrund ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung einen alleinigen Führungsanspruch erhebt: Darüber kann ich heute nur noch müde lächeln.

Trotzdem haben Sie es in der SED ziemlich lange ausgehalten!

Diese Partei hatte 2,3 Millionen Mitglieder. Selbst unsere heutige Bundeskanzlerin wäre damals gern Mitglied der SED geworden. Ich sollte aufgrund meiner kritischen Positionen zu Beginn nicht einmal in die Patei aufgenommen werden. Aber ich will keine Widerstandsbiografie aus etwas machen, was kein Widerstand war. Ich möchte nur sagen: Inhaltlich habe ich mich erst eingebracht, als die Erneuerung mit der PDS begann.

Schmerzt es Sie, wenn die Linke als "SED-Nachfolgepartei" bezeichnet wird?

Ach, das ist eben ein Instrument unserer politischen Gegner. Wenn man sich die heutigen Linken-Mitglieder ansieht, sind da nicht mehr allzu viele Menschen, die wie Gregor Gysi oder ich in der SED waren. Die Vergangenheit der linken Bewegung ist so viel reichhaltiger und durch Siege, Niederlagen und leider auch Verbrechen geprägt. Es ist unsere Aufgabe, daraus zu lernen. Mich stört allerdings, woher dieser Nachfolgepartei-Quatsch meistens kommt.

Wie meinen Sie das?

Ich meine die Arroganz, die manchmal an den Tag gelegt wird, gerade von Union und FDP, die lautlos die DDR-Blockparteien geschluckt haben. Aber diese Arroganz bei der Aufarbeitung der Vergangenheit darf für uns weder heute noch in der Zukunft ein Maßstab sein.

Wenn am 26. September über die politische Zukunft des Landes entschieden wird, endet die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hinterlasse ein "Land im Krisenzustand", haben Sie ihr vor Kurzem im Bundestag vorgeworfen. Gibt es trotzdem etwas, das sie an ihr vermissen werden?

Bei aller politischer Kritik und bei allem Dissens bewundere ich, wie sie sich als Frau aus dem Osten durchgesetzt und wie sie die vielen Krisen während ihrer Amtszeit bewältigt hat. Ich bin überzeugt, dass insbesondere die Union sehr schnell schmerzlich feststellen wird, was sie an Frau Merkel hatte. Für das Land gilt aber: 16 Jahre sind genug. Weiteren Stillstand können wir uns nicht leisten.

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