"Man kann in einer Demokratie nicht von oben nach unten durchregieren", sagt Winfried Kretschmann. Im Interview erklärt Baden-Württembergs Ministerpräsident, wie er massentauglichen Klimaschutz umsetzen will, warum er gegen Rechtsextremismus demonstriert – und wie im Bund die Chancen auf Schwarz-Grün stehen.
Winfried Kretschmann dürfte der erste Ministerpräsident sein, nach dem eine Wespenart (Aphanogmus kretschmanni) benannt wurde – der einzige Landesvater der Grünen ist er sowieso. Seit bald 13 Jahren regiert der 75-Jährige in Baden-Württemberg.
Nicht nur in seiner eigenen Partei gilt
Herr Kretschmann, im ganzen Land wird gerade demonstriert. Auch Sie haben vor kurzem in Ihrer Heimatstadt Sigmaringen an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus teilgenommen.
Winfried Kretschmann: Wir erleben jetzt ein Aufstehen der Bürgerschaft gegen den Rechtsextremismus. Da habe ich mich einfach eingereiht. Nicht um zu reden, sondern um zu zeigen: Jetzt schlägt unsere Stunde als Bürgerinnen und Bürger. Mein niedersächsischer Kollege
Die Demo in Sigmaringen fand am Holocaust-Gedenktag unter dem Motto "Nie wieder ist jetzt" statt. Ist es aus Ihrer Sicht gerechtfertigt, die AfD und den Nationalsozialismus in einem Atemzug zu nennen?
Mit historischen Gleichsetzungen muss man immer aufpassen. Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Aber sie hat uns gelehrt, wachsam zu sein. Und die Nazi-Ideologie nimmt in der AfD erkennbar zu. Die Partei hat sich radikalisiert, hat sich immer stärker mit völkischen Ideen vollgepumpt. Gegen
Glauben Sie, dass die Demonstrationen Menschen davon abhalten werden, die AfD zu wählen?
Ich hoffe es, aber ich kann das nicht voraussagen. Darum geht es aber auch gar nicht. Entscheidend ist, dass die Bürgergesellschaft aufsteht, Flagge zeigt und sagt: Wir sind die Mehrheit und nicht ihr. Wenn AfD-Vertreter behaupten, sie reden für das ganze Volk, dann ist das eine Anmaßung.
Auf vielen Demos gegen Rechts grenzen sich die Rednerinnen und Redner aber nicht nur von der AfD ab, sondern zum Beispiel auch von der CDU. Ist das klug von den Organisatoren?
Überhaupt nicht. Ich finde das fragwürdig. Es geht gegen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Rechts darf man sein – wenn sich das im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung bewegt. Die Parteien ordnen sich ja zum großen Teil immer noch ein auf der linken oder rechten Seite der Gesellschaft. Die CDU wird als starke demokratische Kraft gegen den Rechtsextremismus ganz dringend gebraucht. Es geht um den Schutz der Grundlagen unserer Demokratie, da darf man sich nicht von tagespolitischen Differenzen spalten lassen.
Winfried Kretschmann: "Für den Zusammenhalt einer Koalition ist in erster Linie der Regierungschef zuständig"
Die CDU ist auch Ihr Koalitionspartner im Stuttgarter Landtag. Wenn Sie sich die streitende Ampel auf Bundesebene anschauen: Wie froh sind Sie, dass Sie diese Koalition für Baden-Württemberg 2021 abgelehnt haben?
Es ist keine Frage des Frohseins. Es geht darum, was Sinn ergibt. Ich bin überzeugt, dass das eine völlig richtige Entscheidung war. Mir war damals wichtig, dass wir in schwierigen Zeiten eine große Breite der Bevölkerung repräsentieren – mit zwei im Land stark verankerten Parteien. Letztens hat ein Journalist gesagt, unsere Koalition sei ein bisschen langweilig. Die Langweile bedauere ich nicht. Wir arbeiten mit der CDU sehr gut zusammen, auch weil sie kompromissfähig ist.
Wie gelingt Ihnen das?
Für den Zusammenhalt einer Koalition ist in erster Linie der Regierungschef zuständig. Ich verwende darauf in Baden-Württemberg viel Zeit. Jede Woche. Grüne und CDU sind auch sehr unterschiedliche Parteien. Wir müssen ständig Kompromisse machen und uns zusammenraufen. Kleine Feuerchen, die zu einem großen Brand werden könnten, muss man gleich austreten. Das ist sehr aufwendig, aber notwendig.
Passiert das auf Bundesebene zu wenig?
In vielen Ampel-Debatten frage ich mich schon: Wo ist der Bundeskanzler? Jeder in der Ampel erzählt da etwas anderes. Man hat nächtelang an Kompromissen gearbeitet und kurz danach werden sie von denselben Leuten wieder hinterfragt. Da müsste ein Regierungschef präsent sein und eine Richtung vorgeben. In diesen Konflikten taucht der Bundeskanzler aber oft ab.
Schwarz-Grün scheint aber nicht mehr im Trend zu liegen. In Hessen hat die CDU jetzt lieber mit der SPD koaliert. Und auch die Bundes-CDU kritisiert die Grünen, wo sie nur kann.
Ich finde das kurzsichtig. Als
CDU-Chef Friedrich Merz hat die Grünen aber sogar zum Hauptgegner erklärt.
Nach meiner Einschätzung kam das aus dem Bauch heraus. Ich kann doch nicht eine Partei zum Hauptgegner erklären, mit der ich in mehreren Ländern ordentlich regiere. Ich habe aber auch nicht den Eindruck, dass er diese These weiter vertritt.
Wie groß sind aus Ihrer Sicht die Chancen, dass es nach der Bundestagswahl 2025 auch auf Bundesebene eine schwarz-grüne Koalition gibt?
Sehr groß.
Bei der Union scheint die kurze Liebe zu Schwarz-Grün aber wieder erloschen zu sein.
Zurzeit sind wir irgendwie der böse Bube. Alles, was nicht funktioniert, wird bei uns abgeladen. Da macht man es sich ein bisschen sehr einfach.
Tragen die Grünen nicht auch einen Teil der Verantwortung dafür?
Natürlich. Vor allem kann man immer nur die eigenen Fehler korrigieren – nicht die Fehler der anderen. Die heftige Auseinandersetzung um das Heizungsgesetz hat daran einen großen Anteil. Daran zeigt sich: Man kann in einer Demokratie nicht von oben nach unten durchregieren. Die vielen Krisen haben die Leute veränderungsmüde gemacht. Dann muss man Tempo rausnehmen. Man kann politisch nichts erzwingen. Wir müssen klar sein in unseren Zielen, aber offen in den Wegen. Das müssen wir Grünen klarer benennen.
Beim Heizungsgesetz hat das offenbar nicht funktioniert. Jedenfalls ist da der Eindruck entstanden, der grüne Wirtschaftsminister
Robert Habeck hatte einen riesigen Aufgabenberg vor sich. Und in Rekordzeit den Ausbau der Erneuerbaren angeschoben und die Gaskrise gemanagt. Beim Heizungsgesetz hat am Anfang die Reihenfolge nicht gestimmt, aber Robert Habeck hat es korrigiert. Auch das zeichnet gute Politiker aus: Fehler bemerken und korrigieren. Dem Umbau von Heizungen muss die kommunale Wärmeplanung vorausgehen. Jeder muss wissen, was für sein Quartier oder sein Dorf gilt: Kommt da eine Fernwärmeversorgung hin oder muss jeder individuell heizen? Wir in Baden-Württemberg haben da eine Vorreiterrolle übernommen und mit der verbindlichen Wärmeplanung bereits 2020 die Weichen gestellt. In den großen Kommunen sind wir fast durch.
"Der CO2-Preis ist ein Innovationstreiber"
Auf Bundesebene haben die Grünen es geschafft, in zwei Jahren einen Teil des Landes gegen sich aufzubringen. Sie dagegen sind seit bald 13 Jahren Ministerpräsident und mit Ihnen haben die Grünen in Baden-Württemberg bei jeder Wahl noch hinzugewonnen. Was machen Sie besser?
Ich habe die Politik des Gehörtwerdens begründet. Das ist meiner Ansicht nach das Entscheidende. Es ist unser Ziel, guten Klimaschutz durchzusetzen. Das Zeitfenster dafür ist nicht sehr groß, das sagt uns die Wissenschaft. Aber es gibt auch ein Gegenstromprinzip: Wer ein Ziel hat, muss damit in die Gesellschaft gehen und erhält eine Rückmeldung. Auf diese Rückmeldung muss man reagieren. Das erste Bündnis, das man in der Politik schließen muss, ist das mit den Bürgern – ohne gesellschaftliche Akzeptanz lässt sich politisch keine Mehrheit bilden.
Was bedeutet das zum Beispiel für den Klimaschutz?
Es geht um ein kluges Austarieren der Mittel, vor allem zwischen Ordnungsrecht und marktwirtschaftlichen Instrumenten. Was ökologisch notwendig ist, muss sich auch ökonomisch lohnen. Der CO2-Preis ist ein solches Instrument. Er bringt Planbarkeit und Berechenbarkeit in die Wirtschaft.
Der gestiegene CO2-Preis macht aber auch das Leben der Menschen teurer.
Deswegen soll es perspektivisch ein staatliches Klimageld geben, das Privatpersonen entlastet, wenn der CO2-Preis weiter steigt. Aktuell ist der Preis noch in einem niedrigen Bereich und die Einnahmen fließen bereits über die vom Staat getragene EEG-Umlage an die Verbraucher zurück.
Von marktwirtschaftlichen Instrumenten im Klimaschutz reden vor allem Union und FDP sehr gerne. Sie also auch?
Aus meiner Sicht wird ein positiver Effekt oft unterschätzt: Der CO2-Preis ist ein Innovationstreiber und sorgt mit klaren Preissignalen dafür, dass eine selbsttragende Dynamik aus Investitionen entsteht. Die öffentliche Hand muss den Rahmen schaffen, dass Leitmärkte für klimafreundliche Schlüsseltechnologien entstehen. Deswegen mache ich seit Regierungsbeginn eine klare Politik in Baden-Württemberg. Forschung und Entwicklung werden in meinem Land gefördert wie nirgendwo in ganz Europa. Fast sechs Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts geben wir dafür aus. Kreativität und die Aussicht, ein Problem zu lösen, geben Zuversicht. Das triggert die Leute nicht negativ, sondern positiv.
Sie haben es selbst gesagt: Das Zeitfenster für Klimaschutz ist nicht sehr groß. Da ist das Warten auf Innovationen doch ein Widerspruch.
Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass etwa die Hälfte der nötigen Treibhausgasreduktionen von Innovationen abhängt, die heute noch im Forschungs- und Entwicklungsstadium sind. Deutschland stößt weniger als zwei Prozent der weltweiten Treibhausgase aus. Selbst wenn wir den radikalsten Klimaschutz aller Zeiten machen, sind die globalen Auswirkungen bescheiden. Wir müssen beweisen, dass wir mit hoher Geschwindigkeit den Wandel zur Klimaneutralität gestalten und trotzdem unseren Wohlstand erhalten können. Nur dann werden uns andere Regionen folgen.
Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Die Treibhausgasemissionen haben sich in Deutschland seit 1990 um 40 Prozent verringert, während sich die Wirtschaftsleistung verdoppelt hat. Das zeigt doch: Die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverschmutzung ist möglich. Das gilt aber noch nicht für die ganze Welt. Deswegen müssen wir ein Wirtschaftsmodell entwickeln, das ein Vorbild für andere Teile der Welt ist. Das ist unsere Verantwortung als Hochtechnologie-Land.
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Über den Gesprächspartner
- Winfried Kretschmann wurde 1948 im schwäbischen Spaichingen geboren. Er studierte Biologie und Chemie für das Lehramt an Gymnasien und arbeitete an verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg.1979 gehörte er zu den Gründern des Landesverbands der Grünen. Kretschmann arbeitete unter anderem für den damaligen hessischen Umweltminister Joschka Fischer und kehrte 1988 nach Baden-Württemberg zurück, wo er seitdem ununterbrochen dem Landtag angehört. 2011 wurde Kretschmann zum ersten Ministerpräsidenten mit grünem Parteibuch gewählt. Er koalierte zunächst mit der SPD, ab 2016 dann mit der CDU.
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