Sturz des Assad-Regimes: Nach dem Sturz des Assad-Regimes blicken syrische Geflüchtete mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Die Diskussion um mögliche Abschiebungen sorgt für Spannungen.

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Er hatte sich seine Flucht nicht lange vorher überlegt. Hals über Kopf verließ Jakob Atmay sein Geburtsland Syrien, in dem Bürgerkrieg herrschte. Damals sei ihm keine wirkliche Wahl geblieben, sagt er. "Entweder musste ich an die Front oder wäre verhaftet worden." 24 Stunden blieben ihm, um das Land zu verlassen. Und Atmay verließ das Land, flüchtete nach Deutschland.

Die Anfangszeit sei schwer gewesen, sagt der Vierzigjährige: eine neue Sprache, eine andere Kultur. Seinem Job als Rechtsanwalt kann er in Deutschland bis heute nicht nachgehen. Die langsame Bürokratie habe es ihm zusätzlich schwergemacht, drei Jahre habe seine Familienzusammenführung gedauert. Caritas und Diakonie hätten ihm geholfen, sich in Deutschland einzuleben, sagt der Christ. Sein Glaube habe aber keinen Unterschied gemacht, es sei egal, ob jemand Muslim, Christ oder etwas anderes sei. "Hier sind alle gleich."

"Nicht nur syrische Menschen sollten sich freuen"

Bereut habe er seine Flucht nicht. Denn Atmay, der in Rüsselsheim lebt, floh vor dem Regime der Assad-Familie, das über Syrien knapp 60 Jahre lang in einer Diktatur geherrscht hatte und keinen Platz für Regierungskritik ließ. Bis vor Kurzem. Denn in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember meldeten Rebellen, die syrische Hauptstadt Damaskus eingenommen zu haben. Und der ehemalige Präsident des Landes, Baschar al-Assad, floh in einem Flugzeug, vermutlich nach Moskau. Diese Tage waren für viele Syrer ein Grund zur Freude. "Nicht nur syrische Menschen sollten sich freuen. Es muss für alle eine gute Nachricht sein, wenn ein Diktator weg ist", sagt Atmay. Denn: "Wenn Böses endet, ist das gut."

In Deutschland lebten 2023 laut Mikrozensus knapp 1,3 Millionen Menschen, die selbst oder deren beide Elternteile aus Syrien eingewandert sind, mehr als 62.000 von ihnen wohnen in Hessen. Die meisten sind während der großen Fluchtbewegung 2015 nach Deutschland gelangt. So auch Jihad und Zahida Omar. Die beiden sind gemeinsam mit ihren damals noch sehr kleinen Kindern über die Türkei nach Deutschland gekommen, zu Fuß, mit dem Bus und mit der Bahn, um sich vor dem Bürgerkrieg in Sicherheit zu bringen. Die erste Zeit war nicht einfach. Sechs Monate lang lebte die damals noch vierköpfige Familie in Flüchtlingscamps, hatte Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.

Eine sichere Zukunft in Deutschland

Jihads und auch Zahidas Eltern leben, wie viele Kurden Syriens, entlang der Grenze zur Türkei in Nordostsyrien. Die Omars hoffen, sie dort bald besuchen zu können. Jetzt, nach dem Sturz Assads, scheint die Möglichkeit für sie in erreichbare Zukunft gerückt. Trotzdem zögert das Ehepaar, sich darüber zu freuen. "Wir müssen erst einmal abwarten", sagt Jihad Omar. "Niemand weiß, wer als Nächstes an die Macht kommt. Niemand weiß, was jetzt noch kommen wird."

Syrien sei früher sehr schön gewesen, sagt Zahida Omar. Sie hoffe, dass es eines Tages wieder so schön werde. Ihr Ehemann vermutet, dass es mindestens noch zehn Jahre dauern werde, bis alles wieder aufgebaut sei. Aber zurück nach Syrien wollen die beiden nicht ziehen. "Warum sollten wir auch?", fragt die Kurdin. Mittlerweile wohnt die Familie in einer Wohnung in Kelkheim, aus den zwei Kindern sind drei geworden, beide Omars haben einen Job. Ihre Freunde seien hier, und das Deutschlernen klappe auch immer besser.

Die Omars lachen viel, wenn sie von ihrem turbulenten Leben mit den Kindern erzählen. Immer müsse eines von ihnen entweder zum Handball oder zum Fußball gefahren werden – und am Wochenende seien ständig Turniere. Das sei zwar stressig, und die beiden hätten "nur ein ganz bisschen" Zeit für Zweisamkeit, aber das sei egal. "Hauptsache, die Kinder haben Spaß", sagt Jihad Omar. Jetzt kämen auch viele Weihnachtsfeiern dazu, sagt seine Ehefrau. "Das ist gut, da kann ich viel Deutsch sprechen." Die Omars fühlen sich wohl in Deutschland. Noch seien sie nicht eingebürgert, Sorgen wegen Aussagen mancher Politiker machten sie sich aber nicht. "Abwarten", sagt der Kurde.

Politiker fordern zügige Abschiebung

Unter anderem fordern Politiker der CDU und AfD eine Überprüfung des Schutzstatus syrischer Geflüchteter. AfD-Chefin Alice Weidel etwa erklärte, mit dem Sturz Assads sei der Fluchtgrund für viele Syrer entfallen. Auch Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) sprach von einer "Chance" für Abschiebungen nach Syrien. "Wer ausreisepflichtig ist, muss dieses Land auch wieder verlassen." Der CDU-Politiker bezog diese Forderung vor allem auf Straftäter und warnte vor "falschen Kompromissen". Die Innenministerkonferenz habe die Bundesregierung aufgefordert, "so schnell wie möglich Abschiebungen von schweren Straftätern nach Syrien und Afghanistan möglich zu machen". Nach dem Sturz Assads sei es notwendig, "für Syrien zeitnah eine Neubewertung der Lage vorzunehmen".

Die Vorsitzende des Verbands Deutsch-Syrischer Hilfsvereine, Nahla Osman, kritisiert die Diskussion über Abschiebungen. In der derzeitigen Lage darüber zu sprechen sei "realitätsfern", sagt sie. Außerdem sorgten solche Aussagen auch für viele Ängste bei den Geflüchteten. Viele ihr bekannte Syrer, unter anderem ihr Bruder, wollten wegen der vermehrten "Ausländerfeindlichkeit" und Hetze Deutschland wieder verlassen. Osman, die in Rüsselsheim Fachanwältin für Migrationsrecht ist, stört sich nicht an den Hassnachrichten, die sie manchmal unter den Videos ihres Tiktok-Accounts liest. "Denn ich weiß, dass die Mehrheit nicht so ist. Aber diese Mehrheit ist still." Sie sei immer freundlich und suche den Dialog, das habe ihr Vater ihr beigebracht.

Der Traum ihres Vaters, der vor mehr als 40 Jahren selbst aus Syrien fliehen musste, sei es gewesen, irgendwann wieder in seine Heimat zurückzukehren. Diesen "historischen" Moment, den Osman mit dem Fall der Mauer vergleicht, erlebte er nicht mehr. Er starb vor einigen Wochen. Osman will auch für ihren Vater dabei helfen, Syrien wieder aufzubauen. Dafür will sie, sobald sie kann, für einige Zeit dorthin reisen. Auch ihre Mutter will zurück in ihre Heimat.

"Syrien braucht uns"

Bei vielen Syrern herrsche nach dem Sturz des Assad-Regimes eine Mischung aus Angst und Hoffnung, sagt Osman. Die Lage sei noch immer unübersichtlich, viele hätten Angst, dass in Syrien keine friedliche Lösung für eine neue Regierung gefunden werde. Das Land sei wie ein "Neugeborenes", sagt Jakob Atmay. Der Zivilstaat mit Gleichheit und Gerechtigkeit, einem Parlament und Parteienvielfalt, den er sich für Syrien wünscht, müsse sich erst noch entwickeln. Das Volk sei ein halbes Jahrhundert lang damit beschäftigt gewesen, gegen die Diktatur zu kämpfen, sagt Osman. Die Entwicklung, die sie und viele andere sich wünschten, müsse Schritt für Schritt angegangen werden. Erst einmal seien alle glücklich, dass "Assad endlich weg ist". "Aber die richtige Arbeit beginnt erst jetzt", sagt sie.

Das weiß auch Khaled Homsi. Er ist Mitglied im Deutsch-Arabischen Kulturhaus Daruna und 2013 nach Deutschland gekommen. Der Einunddreißigjährige aus Damaskus plant, wieder zurück nach Syrien zu gehen. "Denn mein Ziel, und das ist das Ziel von vielen, ist, dass wir Syrien wieder aufbauen", sagt er. "Das Land braucht uns, wir haben eine Verantwortung." Er glaube an ein demokratisches Syrien. Und wolle erleben, "dass Syrien wieder frei und schön ist".

Allerdings will er nicht sofort zurückkehren. Er habe noch berufliche Pläne in Deutschland, fühle sich dem Land verbunden und habe seine Community hier, die er nicht einfach verlassen wolle. Homsi will sich weiterentwickeln, um später besser in der Lage zu sein, sein Heimatland wieder aufzubauen. Er wisse von vielen anderen, die zurück nach Syrien ziehen wollten – zumindest für einige Zeit.

Nicht noch einmal bei Null anfangen

Seine Flucht sei zwar recht unkompliziert gewesen, er habe Studienvisa nutzen können, aber er habe damals nicht mit ihr gerechnet, berichtet er. Er war gerade in seinem zweiten Studienjahr. Bei einem Luftangriff gingen in der Arztpraxis seines Vaters Scheiben und Gegenstände zu Bruch. Das Wissen, dass sein Vater an diesem Tag hätte sterben können, und die ständige Angst, zum Militärdienst einberufen zu werden, ließ ihn die Entscheidung treffen, seine Heimat zu verlassen.

Eyad Hamadei saß sogar einen Monat im Gefängnis, weil er nicht bereit war, in die Armee einzutreten, "um das eigene Volk anzugreifen". 2014 kam der 46 Jahre alte Bauingenieur nach Deutschland, holte später seine Frau, die gelernte Maschinenbauerin ist, und die zwei Kinder nach. Er wohnte erst in einem Dorf bei Limburg und pendelte von dort täglich nach Frankfurt, um in einem Falafel-Imbiss zu arbeiten. Seit 2016 ist er sein eigener Chef, führt das Damaskus Falafel House in der Offenbacher Innenstadt und wohnt in der Stadt. Nach dem Umsturz in Syrien hat ihn sein mittlerweile 15 Jahre alter Sohn gefragt, ob die inzwischen fünfköpfige Familie jetzt zurückkehren werde. "Ich will aber nicht noch einmal bei null anfangen", sagt Hamadei, der aus Aleppo stammt. Außerdem könnten die Kinder nicht so gut Arabisch und sollten nicht in einem Land mit kaputter Infrastruktur aufwachsen. Den deutschen Pass haben er und seine Familie seit knapp drei Jahren.

Basayev Danka hat den für seine Einbürgerung notwendigen syrischen Pass am Dienstag nach monatelangem Warten erhalten. Der Vierundzwanzigjährige aus Mainz hätte schon vor mehr als einem Jahr eingebürgert werden können, aber es fehlte ein Identitätsnachweis aus seinem Geburtsland, aus dem er 2016 mit seinen Eltern geflohen ist, die aufgrund ihrer Sprachprobleme ein Jahr später nach Syrien zurückgekehrt sind. "Ich habe 800 Euro an meine Familie überwiesen, damit sie mir die Dokumente besorgen können", sagt Danka. Normalerweise hätte der Pass umgerechnet 40 Euro gekostet.

Danka arbeitet als Hotelrezeptionist und nebenbei in der Praxis eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes. In der Freizeit trainiert er die Jugendmannschaft des Hobby-Fußballklubs FC Ente Bagdad aus Mainz. "Der Fußball hat mir geholfen, die Sprache zu lernen und mich viel besser zu integrieren", sagt Danka. Er hat seine Trainerlizenz gemacht und viele junge Leute in seiner Mannschaft, die erst seit Kurzem hier sind. "Viele erhoffen sich, hier einen guten Job zu bekommen und ein ruhiges Leben zu führen", sagt er. Die meisten, die neu gekommen seien und viel Geld an Schlepper gezahlt hätten, hätten Angst, in ihre Heimatländer zurückkehren zu müssen.

Aussagen wie die von Poseck oder Weidel seien "leider nichts Neues", sagt Homsi. Das sei schon 2013 so gewesen. Aber er habe viele Menschen gehört, die Syrer wie ihn bäten, zu bleiben und nicht nach Syrien zurückzugehen. Das finde er schön. Dennoch seien er und viele andere Syrer nicht sehr optimistisch, was Deutschlands politische Lage sowie rechtsradikale und rechtsextremistische Strömungen angehe. "Man merkt, es geht in die falsche Richtung, leider." Davon will Homsi sich aber nicht unterkriegen lassen. "Es ist wie in Syrien. Wir waren auch in den Kriegsjahren optimistisch, dass alles ein gutes Ende haben wird", sagt er. "Hier gibt es Menschen, die es uns einfach machen, daran zu glauben." Das seien die gleichen Menschen, die ihm und allen anderen Geflüchteten vor zehn Jahren den Weg erleichtert hätten, als sie hier in Deutschland angekommen seien.

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So ähnlich sieht es auch Jakob Atmay, der in Nahla Osmans Kanzlei als Rechtsberater arbeitet. In einer Demokratie gebe es immer verschiedene Meinungen, sagt er. "Auch die, die man nicht mag." Ihm seien ausländerfeindliche Aussagen oder Forderungen von Politikern, Syrer zügig abzuschieben, egal. "Deutschland ist meine Heimat, nicht Syrien", sagt Atmay. Er bleibe hier, mit seiner Familie, bei seinen Freunden. Vielleicht besuche er Syrien einmal, am besten dann, wenn dort die Sonne scheine und es warm sei.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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