Die junge Generation ist unsere Zukunft – doch damit die Zukunft gut wird, muss viel passieren. Politikwissenschaftler Sebastian Kurtenbach spricht im Interview über die drängendsten Probleme, geeignete Strategien und das, was ihm Hoffnung macht.

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Herr Kurtenbach, was macht Sie besonders unruhig daran, wie unsere Kinder und Jugendliche aufwachsen?

Wer in diesem Jahr 18 wird, also Jahrgang 2007 ist, hat fast sein ganzes Leben lang Krisenerfahrungen gemacht. 2015 gab es die starke Zuwanderung, die Schulen total unter Stress gesetzt hat mit belegten Turnhallen und überforderten Lehrkräften. Dann kam die für Heranwachsende dramatische Pandemie, dann mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der erneute Stresstest für das Schulsystem, weil wieder Geflüchtete integriert werden mussten. Und: Die Jugendlichen haben nie die Erfahrung gemacht, in einem Land aufzuwachsen, das gut funktioniert.

Weil kaum eine Bahn noch pünktlich kommt?

Zum Beispiel. Das Zukunftsversprechen, das es ihnen einmal besser gehen wird als ihren Eltern, funktioniert auch nicht mehr. Die Rente ist unsicher, die äußere und innere Sicherheit muss aufrechterhalten werden. Ein Umgang mit der drohenden Klimakatastrophe muss gefunden werden. Selbst Gutverdienende können sich oft kein Wohneingentum mehr leisten. Die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht gerade rosig, die Demokratie ist unter Druck. Die junge Generation heute ist aber viel kleiner als die junge Generation vor 60 Jahren. Wie soll sie alle Aufgaben erfüllen? Die Situation ist prekär, das müssen wir uns eingestehen.

Was machen die Multikrisen mit jungen Menschen, die noch dazu das Gefühl haben, im politischen Diskurs kaum eine Rolle spielen?

In Studien sehen wir zunehmenden Pessimismus und Gestaltungspessimismus, genau aufgrund der Erfahrung, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Psychische Erkrankungen haben stark zugenommen.

Und deshalb wählen sogar junge Menschen vermehrt die AfD – obwohl diese alles andere zukunftsgewandte Politik betreiben?

Leider werden in der demokratischen Mitte wenig hoffnungsvolle, konkrete Zukunftsideen gerade für jüngere Leute formuliert. Das sind häufig Wahlversprechen an Ältere, wie man an den Wahlplakaten sieht. Die Populisten versprechen dagegen eine Zukunft, die wie eine vermeintlich heile Vergangenheit klingt, die es so nie gab.

Haben Kinder denn wirklich keine politische Lobby? Sie haben ja auch noch Eltern.

Bei der letzten Bundestagswahl waren rund die Hälfte der Wahlberechtigten über 55 Jahre alt. Das wird noch anwachsen. Selbst wenn man das Wahlalter auf 16 senken würde, wären die Jahrgänge nicht groß genug, um einen Unterschied zu machen. Von den 13 Millionen Eltern minderjähriger Kinder in Deutschland sind zudem gar nicht alle wahlberechtigt. Es gibt wesentlich mehr ADAC-Mitglieder als Eltern.

Es gibt schon viele kluge Vorschläge, wie sich die Rente sichern ließe. Leider gehören dazu unpopuläre politische Entscheidungen

Sebastian Kurtenbach

Der Altersmedian liegt in Deutschland bei 45,1 Jahren, in Großbritannien und den USA nur bei 40, weltweit bei 30. Warum ist der Altersmedian gerade bei uns so unglaublich hoch?

Weil die Boomer-Generation so groß ist, dass sie den Altersdurchschnitt nach oben stark verschiebt. Sie ist doppelt so groß wie die die Generation, die jetzt geboren worden ist. Dieses Verhältnis wird uns die nächsten 40 Jahre beschäftigen und prägen. Denn dadurch haben sich Schieflagen entwickelt.

Vor allem finanziell! Jeder vierte Euro des Bundeshaushalts, 127 Milliarden Euro im Jahr 2024, geht schon heute jährlich in den Zuschuss der Rentenversicherung und in der Bekämpfung von Altersarmut, weil die Rentenversicherungsbeiträge nicht ausreichen, um die aktuellen Auszahlungen zu decken. Tendenz steigend.

Das System ist total unter Stress, das ist keine neue Nachricht. Angesichts der sehr großen Generation, die jetzt in den Ruhestand tritt, ist die riesige Herausforderung, wie wir das finanzieren, ohne die die Zukunftsfähigkeit der nachkommenden Generationen in Frage zu stellen. Es gibt schon viele kluge Vorschläge, wie sich die Rente sichern ließe. Leider gehören dazu unpopuläre politische Entscheidungen.

Wäre es eine Lösung, wieder mehr Kinder zu bekommen?

Das ist ein klassischer, teilweise auch von den populistischen Parteien formulierter Ansatz. Realistisch betrachtet kennen wir keine familienpolitischen Maßnahmen, die die Geburtenrate hochtreiben.

Und theoretisch angenommen…?

…hätten wir ein Riesenproblem, weil wir genug Personal in Kitas und Schulen haben, um die Kinder zu versorgen. Wir können die Eltern in Zeiten von Fachkräftemangel nicht auf dem Arbeitsmarkt entbehren. Und genau deshalb müssen wir die Kinder, die wir jetzt haben, die etwa 750.000 Menschen pro Jahr, die geboren werden, optimal fördern und zukunftsfit machen. Wir dürfen uns da nicht in die Tasche lügen. Bereits heute verlassen etwa sechs Prozent die Schule ohne Schulabschluss. Das sind 50.000 Kinder pro Jahr. Das können wir uns nicht mehr leisten.

Wir können nicht länger hinnehmen, dass Kinder systematisch im Schulsystem scheitern

Sebastian Kurtenbach

Ohne Zuwanderung wäre unsere Bevölkerung schon lange geschrumpft. Die nachwachsende Generation hat das stark verändert.

In Großstädten haben mittlerweile weit über die Hälfte der Kinder in Grundschulen einen Migrationshintergrund. Diese Superdiversität, wie wir sie nennen, weil es keine große prägende Gruppe mehr gibt, wird von den Erwachsenen häufig übersehen. Die Problematisierung von Diversität kommt häufig von Gruppen, die selbst nicht daran gewöhnt sind. Je älter die Menschen in Deutschland, desto geringer der Anteil mit Migrationshintergrund. Aber ausgerechnet die treffen Entscheidungen darüber, wie eine superdiverse Schule funktionieren soll. Das ist ein strukturelles Dilemma.

Fehlt es vor allen an Geld in den Schulen?

Das auch, aber es reicht nicht, nur Geld ins System zu bringen. Schulen müssen einen kulturellen Wandel durchlaufen. Denn auch die Lehrer sind sehr wenig divers und haben unrealistische Vorstellungen, was Kinder heute mitbringen müssen. Wir können nicht länger hinnehmen, dass Kinder systematisch im Schulsystem scheitern, dass das Verhindern des Scheiterns privatisiert, also in die Familien ausgelagert wird. Schulen müssen proaktiv Verantwortung übernehmen für gelingende Kindheit. In kaum einem anderen OECD-Land ist der Schulabschluss so sehr an die an die soziale Herkunft der Eltern gebunden.

Wie müssen sich Schulen noch verändern?

Schulen haben viele Aufgaben übernommen, die sie strukturell überfordern. Vielleicht müssen sie das gar nicht alles leisten. Wir könnten Schulen weiterentwickeln zu sogenannten Community-Zentren. Diese Ansätze gibt es in etwa in Kanada oder Großbritannien schon lange. Dort werden Schulen nicht nur als Bildungs-, sondern als Gemeinschaftsorte verstanden – mit Flächen für Vereine, Nachbarschafts-Initiativen und Coworking-Spaces für Erwachsene. Die Schule wird so zum gesellschaftlichen Mittelpunkt eines Viertels – und alle tragen bei zur Nachmittagsbetreuung.

Sehen Sie in Deutschland auch schon gute Beispiele?

Es gibt verschiedene Beispiele, wo Schule, Vereine und Organisationen sich zum Stadtteil hin öffnen. Bundesweit bekannt ist der Rütli-Campus in Berlin, aber auch die Bildungslandschaft in der Altstadt Nord rund um den Kölner Klingelpützpark sind solche Beispiele.

In der Theorie klingt das schön. In der Praxis müsste man dafür Schulen, die oft in sehr schlechtem Zustand sind, erheblich umbauen oder neue Schulen ganz anders planen.

Wir müssen ohnehin massiv in Schulen investieren. Da kann man solche Konzepte mitdenken, wie es ja auch beispielsweise beim Neubau des Bildungscampus in Kalk passiert. Klar kann das nicht von jetzt auf gleich überall passieren. Aber das ist ja kein Grund, es nicht anzugehen. Wo immer ich darüber spreche, ist nie jemand dagegen. Man traut sich nur noch nicht so recht. Dabei wäre es noch nicht einmal viel personalintensiver als jetzt mit dem Offenen Ganztag.

Wir dürfen die Großelterngeneration nicht vergessen

Sebastian Kurtenbach

Kinder müssen in unserer alternden Gesellschaft ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Denkens gerückt werden. Das ist keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was wäre anders in einem kinderorientierten Land?

Man würde sich vor jeder politischen Entscheidung die Frage stellen: Was bedeutet sie für Kinder? Dafür könnten wird Zukunftsräte etablieren in Parlamenten und Stadträten. Es ist damit nicht garantiert, dass Entscheidungen immer im Sinne der jungen Generation getroffen würden. Aber ein Kölner Stadtrat müsste dann zumindest öffentlich darüber debattieren. Allein diese Systematisierung würde Kinder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken.

Gibt es Vorbilder?

Es gibt die ersten Bürgerräte, die zwar nicht allein Kinder und Jugendliche in den Blick zu nehmen, aber schon jetzt zum Wandel der politischen Kultur beitragen. Wir müssen uns eh in die Richtung bewegen, Bürgerinnen und Bürger stärker in die Demokratie einzubinden. Die Zukunftsräte wären da ein Element.

Eltern müssen arbeiten, Kitas und Schulen sind in keinem guten Zustand. Wer oder was könnte noch helfen?

Wir dürfen die Großelterngeneration nicht vergessen. Das sind die Boomer, die jetzt in Rente gehen. Sie haben die Erfahrung gemacht, immer zu viele zu sein. Jetzt ist es ein Riesenvorteil, dass sie so viele sind. Kindern, die ein gutes Verhältnis zu ihren Großeltern haben, geht es besser, den Großeltern geht es auch besser. Das müssen wir stärken. Wir haben keinen Generationenkonflikt – und den sollten wir uns auch nicht einreden lassen.

Was ist mit dem Drittel der Großeltern-Generation, das keine Enkel hat?

Die haben ein erhöhtes Risiko für Einsamkeit. Deshalb braucht es Ansätze, wie wir Enkellose mit Kindern zusammenbringen – zum gegenseitigen Vorteil. Die Generation, die jetzt in Rente geht, ist so gut gebildet, so gesund, so wohlhabend und auch so technikkompetent wie keine andere Generation. Sie wäre perfekt für die Förderung von Kindern außerhalb der Familien.

Würden sich Rentner denn stärker engagieren wollen?

Wir wissen, dass diejenigen, die sich engagieren, zufriedener sind, auch im Alter. Wir haben es aber häufig mit einem Informationsdefizit zu tun. Viele Leute wissen nicht, wie und wo sie sich engagieren sollen – und dann auch nicht, was ihnen entgeht. Das ist eine Frage der Ansprache.

Die Lasten, die auf die jüngere Generation jetzt zukommen, sind immens

Sebastian Kurtenbach

Wie könnte eine systematische Ansprache aussehen?

Eine Möglichkeit wäre, mit dem Rentenbescheid auf Ehrenämter hinzuweisen und zu beraten. Die Kommunen hätten die Möglichkeit, jeden Jahrgang anzuschreiben und Angebote zu machen. Bislang ist es eher Zufall, ob sich jemand engagiert oder nicht. Aus Studien wissen wir, dass auch Anreizsysteme dazu führen, dass Menschen motivierter sind, ein Ehrenamt anzunehmen. Neben Ehrenamtskarten wie in Köln könnten kleine Honorare oder Steuergutschriften helfen. Ich bin da sehr optimistisch. Über solche Vorschläge müsste eine Politik aber entscheiden.

Was macht Ihnen noch Hoffnung?

Hoffnung macht mir die faktische Notwendigkeit. Die Lasten, die auf die jüngere Generation jetzt zukommen, sind immens. Alle wollen aber, dass diese Lasten geschultert werden. Deswegen bin ich ziemlich optimistisch, dass man die Realitäten zur Kenntnis nimmt und daraus die richtigen Schlüsse zieht.

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Zur Person

Sebastian Kurtenbach, gebürtiger Kölner, lebt und lehrt in Münster als Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der Fachhochschule. Gerade hat Kurtenbach mit Aladin El Mafaalani und Klaus Peter Strohmeier das Buch "Kinder – Minderheit ohne Schutz" bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht.

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