Der eine Moment, der alles verändern kann. Der Moment, wenn dir die ganze Welt auf die Füße schaut. Die Mitspieler auf dem Rasen. Teamchef Franz Beckenbauer mit seinem Trainerstab draußen am Spielfeldrand. Fast 73.000 Zuschauer im viel zu weitläufigen Olympiastadion von Rom. Knapp 29 Millionen im bald wiedervereinigten Deutschland. Vermutlich ein Milliardenpublikum an den Fernsehgeräten weltweit.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Pit Gottschalk dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ein solcher Moment, erschaffen für die Ewigkeit, macht dich zu einem einsamen Menschen. Es gibt nur: dich und den Ball. Andreas Brehme verliert, bevor er am 8. Juli 1990 Ball und Fußballhistorie auf jenem Elfmeterpunkt in Rom zurechtlegt, jedes Zeitgefühl. "Sieben, acht Minuten" habe das lästige Vorgeplänkel gedauert, sagt er hinterher. In Wirklichkeit sind es handgestoppte 90 Sekunden. Später lacht Brehme darüber.

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Er selbst will erst Tage später im Sardinien-Urlaub die Bedeutung des einen Moments begriffen haben, diese 85. Spielminute im WM-Endspiel gegen Argentinien, die seitdem sein Leben bestimmte. Der Steilpass von Lothar Matthäus in den Strafraum. Die Grätsche von Roberto Sensini gegen Rudi Völler. Der Pfiff von Schiedsrichter Edgardo Codesal Mendez. Und er - plötzlich am Elfmeterpunkt. Alleine. Andreas Brehme schmunzelte, wenn er darauf angesprochen wurde.

Anekdoten voller Stolz

Immer und immer wieder sollte Brehme Anekdoten von diesem Moment im WM-Finale von 1990 erzählen. "Jeden Tag", wie er sagte, und an Jubiläumstagen noch ein paar mehr. Von seinen Gedanken beim Torschuss unten links. Seinem Respekt vor Torwart Goycochea. Seinem Dialog vorher mit Völler. Seiner Beziehung zu Matthäus. Von seiner Karriere. Die Sätze klangen jedes Mal gleich und trotzdem nicht auswendig gelernt.

Die eine Anekdote geht so: Völler kommt damals zu ihm rüber, als Finalgegner Argentinien im Chaos versinkt, und will ihn vor dem Strafstoß aufmuntern. "Wenn du den reinmachst", hört er ihn sagen, "sind wir Weltmeister!" Brehme schüttelt den Kopf. "Schönen Dank auch", lässt er Völler wissen, "ich werde es mir zu Herzen nehmen". Vorsichtshalber hakt er nach: "Du kannst ihn auch gerne selbst schießen." Völler winkt ab: "Nein, nein! Lieber nicht!"

Bis heute provoziert die Nacht von Rom die Ungerechtigkeit, dass dieselben Leute, die seine Anekdoten von 1990 lieben, Andreas Brehmes Karriere damit auf den einen Strafstoß im 57. Länderspiel von insgesamt 86 reduzieren. Wäre das eine Tor alles gewesen, was ihn zur Persönlichkeit erhoben hat, hätte man Brehme im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund wohl kaum in die erste "Hall of Fame" des deutschen Fußballs aufgenommen.

In der Gründungself waren nur drei Abwehrspieler vorgesehen. Neben Franz Beckenbauer und Paul Breitner ist Andreas Brehme einer von ihnen. Seine Position: Linker Verteidiger. Zeit seines Lebens hat man ihn dafür gepriesen, dass er der erste perfekt beidfüßige Nationalspieler war. Als er 1990 für das Kolumbien-Spiel gesperrt ausfiel, merkte man das sofort. Seine Kreativität an der Außenbahn, in den 1980er-Jahren eine Seltenheit, fehlte völlig.

Linksverteidiger aus Vielseitigkeit

Linksverteidiger ist er nur geworden, weil auf seiner ersten Profistation in Saarbrücken zwei ausgefallen waren. Der eine mit Beinbruch, der andere mit Meniskusschaden. Das alleine zeigt Brehmes Vielseitigkeit. Beim DFB holte ihn Berti Vogts als Libero zu den U21-Junioren. Bei Franz Beckenbauer spielte er zwischendurch Rechtsverteidiger und defensives Mittelfeld. "Er wusste: Wenn Not war, konnte er mich überall hinstellen", sagte Brehme.

Dieses Pflichtgefühl, eher hanseatisch als typisch deutsch, zwang ihn 1996 zum Bleiben in der Pfalz, als Kaiserslautern mit ihm, dem Alt-Internationalen, weinend in die zweite Liga abstieg. Er wollte gutmachen, was misslungen war, und gehörte zwei Jahre später zur legendären Meistermannschaft, die mit Trainer Otto Rehhagel in die Bundesliga zurückgekehrt war und dann Bayern München im Titelrennen besiegte. Auch das ist Andreas Brehme.

Aber wann immer er bei Veranstaltungen auftrat, zeigten sie nur die Szenen beim Elfmeter 1990: den stoisch ruhigen Brehme inmitten von aufgeregten Argentiniern. Wie Nestor Lorenzo und Pedro Troglio den Schiedsrichter bedrängen. Wie Diego Maradona die Rücknahme des Elfmeters fordert. Wie Jose Serriguela den Ball wegspitzelt, als Brehme ihn fixiert. Edgardo Codesal Mendez, der Schiedsrichter aus Mexiko, setzt noch einen darauf.

Brehme, hoch konzentriert, Kinn auf der Brust, spuckt nach rechts und richtet den Ball erneut aus. Mit gestrecktem Zeigefinger Richtung Ball weist ihn Schiedsrichter Mendez, Wange an Wange, von links zurecht: Ball genau auf den Punkt! Brehme korrigiert ein weiteres Mal. Wie ein Verkehrspolizist befiehlt ihm Mendez mit flacher Hand: Jetzt warten! Und läuft rückwärts bis an die Strafraumgrenze, bevor er den Strafstoß freigibt. Brehme starrt auf den Boden.

Matthäus Unsicherheit war Brehmes Gewinn

"Das war das Schlimmste damals: die Wartezeit", erinnerte er sich. "Sonst musst du nicht groß überlegen. Du legst den Ball hin und haust ihn rein." Lothar Matthäus, der eigentlich schießen sollte, bleibt kleinlaut im Hintergrund. Er hat sich nicht sicher gefühlt. Brehme sagte: "Eine bodenlose Frechheit, dass es bei ihm später hieß, er sei ein Angsthase gewesen. Wenn einer sich nicht gut fühlt, ist es für die Mannschaft besser, dass er nicht schießt."

Brehme hat nie ein böses Wort über Matthäus verloren. Über keinen Kollegen. "Es ging nur um Deutschland", sagte er, "wir wollten alle gemeinsam Weltmeister werden, und am wichtigsten waren die Physiotherapeuten, die Tag und Nacht für uns Spieler gearbeitet haben". Bei jedem Satz spürte man, dass Andreas Brehme Teamgeist beim Fußball zu schätzen wusste. Er machte nie ein Geheimnis daraus: Sowas lernt man auf dem Bolzplatz.

Die Technik brachte ihm sein Vater Bernd in Hamburg-Barmbek bei, genauer: bei Barmbek- Uhlenhorst. Zweimal Training pro Woche plus Spiel, seit er vier ist, und Zusatzübungen mit rechts und links, weil sein Papa Trainer war. Obwohl er einer der erfolgreichsten Fußballer der Stadtgeschichte war, hat er nie beim Hamburger SV gespielt. Schuld daran waren Günter Netzer und Felix Magath. Der eine damals Manager beim HSV, der andere Spieler.

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Profikarriere beim 1. FC Saarbrücken statt beim HSV

Nach sechs Wochen Probetraining wollte ihn Netzer 1980 in der zweiten Mannschaft des HSV parken, damals sechste oder siebte Liga. Brehme sah keinen Sinn darin. Da spielte er ja sogar mit Barmbek-Uhlenhorst hochklassiger. Magath bekam das mit und vermittelte einen Wechsel zu seinem früheren Klub 1. FC Saarbrücken, immerhin zweite Liga Süd. Brehme wurde Profi - aber nicht beim HSV. "Mein größter Fehler", gibt Netzer heute zu.

Für Brehme nicht. Er bekam 670 Kilometer entfernt die notwendige Spielpraxis, empfahl sich für Kaiserslautern und später Bayern München. Fast immer halfen Mitspieler bei Transfers nach. Zum Beispiel Matthäus. Eigentlich stand Brehme bei Sampdoria Genua im Wort, als ihn sein Freund 1988 zu Inter Mailand lotste. Da kann es niemanden verwundern, dass Brehme ihm Verantwortung abnimmt, wenn die Befindlichkeit im WM-Finale unpässlich ist.

Exakt neun Schritte Anlauf nimmt Andreas Brehme, als er Sergio Goycochea zum Duell gegenübersteht. Er spürt größten Respekt vor diesem Torwart. Der Ersatzmann des verletzten Nery Pumpido hat zwei Elfmeterschießen für Argentinien gewonnen: zuerst gegen Jugoslawien im Viertelfinale und danach gegen Gastgeber Italien im Halbfinale. Goycochea gilt seitdem als Elfer-Killer. "Beim Elfmeter", weiß Brehme, "kann der Torwart nur gewinnen".

Brehmes Eintritt in die Hall of Fame

In diesem Moment zählt nicht, dass er das vielleicht schönste Turniertor im spektakulären Achtelfinale gegen Holland geschossen hat: diesen wunderbaren Schlenzer von der linken Strafraumecke zum zweiten Treffer. Oder das Führungstor im Halbfinale gegen England. Am Elfmeterpunkt wartet der WM-Ball "Etrusco Unico", mit 20 Löwenköpfen verziert und Latex stabilisiert, auf seine Beförderung. Es gibt nur: ihn und den Ball. Diesen einen Moment.

Vier Jahre zuvor hat Argentinien 1986 das WM-Finale gegen Deutschland dominiert und die wilde Aufholjagd der Deutschen mit dem Burruchaga-Tor kurz vor Schluss gekontert. Diego Maradona stand als Kapitän ganz oben. Nun die Revanche. Deutschland hoch überlegen - aber in 85 Spielminuten außerstande, das Finale vorzeitig zu entscheiden. Nur dieser eine Strafstoß kann das Bollwerk brechen. Andreas Brehmes Strafstoß.

Aus welchem Holz muss ein Fußballer geschnitzt sein, um dieser Belastung standzuhalten? Andreas Brehme, damals 29, schaut den Torwart nicht eine Sekunde an. "Ich wollte 100 Prozent konzentriert bleiben." Die linke Ecke hat er im Kopf, seit er den Ball hingelegt hat. Jetzt nur nicht nachdenken. Nicht zweifeln. "Wir wussten ja alle, dass Goycochea vorher ein paar Dinger gehalten hatte." Aus neun Schritten Anlauf werden fünf, als er schießt.

Der Rest ist Fußballgeschichte. Das Siegtor zum 1:0 über Argentinien. Der sich vergeblich streckende Torwart. "Goycochea wusste alles, nur halten konnte er ihn nicht", schreit TV-Reporter Gerd Rubenbauer neben Karl-Heinz Rummenigge ins ARD-Mikrofon. Der dritte WM-Sieg nach 1954 und 1974 war perfekt und Andreas Brehme auf einer Stufe mit Helmut Rahn und Gerd Müller. Ein Hall-of-Famer. Nicht nur für ihn: Ein Moment für die Ewigkeit.

Über den Autor

  • Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fußball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
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