Kassel-Calden: Eine Verschwendung von Steuergeld, sagen die einen, wichtige Infrastruktur, meinen die anderen.
Am Flughafen Kassel-Calden scheiden sich die Geister. Womöglich hätte die Variante eines Verkehrslandeplatzes alle denkbaren Vorteile auch erbracht.
Für den Linienbetrieb der Passagier- und Frachtfliegerei in Deutschland hat der Flughafen Kassel-Calden bisher keine Bedeutung gehabt und wird sie nach Ansicht von Branchenfachleuten wohl auch nie erlangen. Von einer betriebswirtschaftlichen Rentabilität kann keine Rede sein, und es ist keine Besserung in Sicht.
Die Fluggesellschaft Sundair hat das letzte in Calden stationierte Flugzeug von Typ Airbus A319 kürzlich abgezogen. Die Ziele Gran Canaria, Fuerteventura fliegt die in Stralsund ansässige Airline seit diesem Monat nicht mehr von Calden aus an, sondern vom Flughafen Münster/Osnabrück aus.
Die Botschaft des Bundes der Steuerzahler zu zehn Jahren Flughafen Kassel-Calden im vergangenen Jahr war desaströs: Ein Jahrzehnt Schönrechnerei sei genug, Fehlbeträge von mehr als fünf Millionen Euro im Jahr und 300 Millionen Euro "versenktes" Steuergeld seien es erst recht.
Letzte Generation protestiert gegen Flughafen
Weshalb sich Klimakleber vor Kurzem gerade den wohl ruhigsten und klimaverträglichsten, weil fast verkehrsfreien Verkehrsflughafen Deutschlands für Demonstrationen ausgesucht hatten, bleibt ihr Geheimnis. Erreicht haben sie, dass der Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller (Die Grünen) die Diskussion um das jährliche Defizit von mehr als fünf Millionen Euro neu entfacht hat.
Das müssen die Gesellschafter mit Steuergeld ausgleichen, genauer gesagt das Land Hessen, das 68 Prozent der Anteile hält, die Stadt Kassel und der Landkreis Kassel, die je 14,5 Prozent halten, sowie Calden, das drei Prozent besitzt.
Die Frage, ob das Land auf Schöllers Vorschlag eingehe und die Anteile der Stadt übernehme, beantwortete das für Beteiligungen des Landes zuständige hessische Finanzministerium auf Nachfrage der F.A.Z. nicht. "Es ist unter Partnern immer besser, zunächst miteinander zu sprechen", ließ Finanzstaatssekretär Uwe Becker (CDU) wissen. Er ist zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafengesellschaft.
Ist der Flugbetrieb für die Gewerbeentwicklung notwendig?
Der ganze Aufsichtsrat müsse dem Wohl des Unternehmens verpflichtet sein, führte Becker weiter aus. Die Einlassung ist vor allem als Rüge für Schoeller gemeint, der auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafen GmbH ist. Für Becker steht außer Frage, dass der Flugbetrieb für die Gewerbeentwicklung am Standort notwendig ist.
Das Land stehe geschlossen hinter dem Kassel Airport als Infrastrukturprojekt für Nordhessen, äußerte Becker weiter. Dafür nimmt er demnach auch in Kauf, dass das Hessen im aktuellen Haushalt rund 3,3 Millionen Euro einplanen muss, um das Defizit des Flughafens auszugleichen.
Der Grünenpolitiker Schoeller wird nicht ernsthaft damit gerechnet haben, dass die CDU-geführte Landesregierung seinem Vorschlag folgen würde. Aber für Kommunalpolitiker gibt es angesichts der heiklen Haushaltslage in Land und Kommunen auch für die Stadt Kassel plausible Gründe dafür, darüber nachzudenken, ob die mehr als 800.000 Euro, mit denen der Flughafen den Etat der Stadt jährlich belastet, nicht besser etwa in die Finanzierung des Ganztagsbetriebs von Grundschulen investiert wären, die 2026 Pflicht wird.
Bei einer entsprechenden Relevanz des Flughafens Kassel-Calden für den Luftverkehr in Deutschland könnte die Abwägung aus guten Gründen auch zugunsten des Kasseler Airports ausfallen. Diese ist aber offensichtlich nicht gegeben, wie sich beispielsweise aus einer Untersuchung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung über Hauptverkehrsflughäfen und die Bedeutung des Luftverkehrsstandorts Deutschland folgern lässt.
Deren Zahlenbasis wurde noch in den aufkommenstarken Jahren unmittelbar vor der Corona-Pandemie erhoben. Kassel-Calden kommt in der Untersuchung allerdings überhaupt nicht vor. Denn es geht in der Studie nur um die Verkehrsflughäfen, die eine nennenswerte Bedeutung für den Passagier- und/oder Frachtflugverkehr in Deutschland hatten und haben, wie Autor Johannes Schneider auf Nachfrage erläutert.
Kassel-Calden gehört nicht dazu, weil dort Passagiere fehlen und auch das Frachtaufkommen keine Rolle spielt. Der rund 70 Kilometer von Kassel-Calden entfernte Flughafen Paderborn/Lippstadt und etliche andere kleinere Flughäfen wie Karlsruhe/Baden-Baden oder auch Rostock-Laage haben dagegen die Relevanz, die Kassel-Calden fehlt, und sind in der Untersuchung erwähnt.
Die nackten Verkehrszahlen vom Kassel Airport, so der neue Name, sprechen eine klare Sprache: Das höchste Aufkommen, das in Calden bisher notiert wurde, waren knapp 132.000 Passagiere im gesamten Jahr 2018. Das entspricht dem Aufkommen an einem eher schwachen Tag am Frankfurter Flughafen. Der direkte Calden-Konkurrent Paderborn zählte im selben Jahr mehr als 736.000 Passagiere.
Da Paderborn eben nur rund 70 Kilometer von Kassel entfernt und verkehrlich gut angebunden ist, geht auch die Argumentation von Ausbaubefürwortern ins Leere, man brauche den Flughafen Kassel-Calden, um in Nordhessen gleiche Lebensverhältnisse wie im Rest der Republik zu schaffen. Die Documenta-Stadt Kassel ist auch, was die Erreichbarkeit per Flugzeug betrifft, keineswegs abgehängt.
Die mehrere Millionen Euro Steuergeld für den Flughafen in Calden allein im laufenden Jahr hält Becker dennoch für gerechtfertigt. "Das Land Hessen steht uneingeschränkt zum Kassel Airport. Er ist ein wichtiges Infrastrukturprojekt, schafft Arbeitsplätze und sorgt für Steuereinnahmen", sagt er. Volkswirtschaftlich sei der Flughafen ein Gewinn, betriebswirtschaftliche Kosten nehme man in Kauf.
Arbeitsplätze am Kassel Airport
Der Sozialdemokrat Andreas Siebert, Landrat des Landkreises Kassel und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Kassel Airport, pflichtet Becker in dieser Sache bei: Der Flughafen sei ein Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung im Landkreis Kassel. Mehr als 1300 Arbeitsplätze seien bereits entstanden, weitere Einstellungen und Unternehmensansiedlungen sowie -erweiterungen im neuen Gewerbepark stünden bevor.
Der touristische Flugbetrieb Kassel-Calden kann mit dieser Treiberrolle allerdings nicht gemeint sein. Denn die Geschäftspartner von dort ansässigen Branchenunternehmen wie der Deutschland-Vertretung des Kleinflugzeugherstellers Piper und des Hubschrauber-Wartungsunternehmens Air Lloyd Aerotechnics dürften außerhalb der Urlaubssaison wohl kaum an Ferienorten wie Antalya zu finden sein.
Die türkische Ferienmetropole wird von Kassel-Calden aus laut Winterflugplan zweimal in der Woche angeflogen. Für solche Unternehmen dürften eher individuelle Verbindungen mit kleinen Geschäftsflugzeugen wichtig sein. Dafür hätte es allerdings auch keinen Ausbau vom Verkehrslandeplatz zum Verkehrsflughafen bedurft. Etwa der Verkehrslandeplatz Egelsbach hat sich genau mit diesem Angebot unmittelbar neben dem größten deutschen Flughafen – dem Frankfurter – etabliert.
Alles auf Anfang?
So hat denn auch der ehemalige hessische Verkehrs- und Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Die Grünen) vorgeschlagen, Kassel-Calden zurückzustufen zu einem Verkehrslandeplatz. Es wäre eine Rückkehr zum Status vor dem Neubau vor elf Jahren. Denn zwischen 1970 und 2013 war in Kassel-Calden auf dem Areal neben dem Neubau schon ein solcher Verkehrslandeplatz.
Schon vor Jahren diagnostizierte Eric Heymann, Analyst bei Deutsche Bank Research, in einer später fortgeschriebenen Studie über Regionalflughäfen, dass diesen in aller Regel die wesentlichen Voraussetzungen für einen rentablen Betrieb fehlten, nämlich die Fähigkeit, Passagier- und Frachtströme dauerhaft zu bündeln.
Heymann hatte schon damals den Status eines Verkehrslandeplatzes als Option für Regionalflughäfen genannt, um die laufenden Kosten zu verringern. Das hält auch der Luftverkehrsexperte Christoph Brützel aus Meerbusch für eine Möglichkeit. Denn als Verkehrsflughafen müssen kostspielige Services wie die Flugsicherung und die Flughafenfeuerwehr kontinuierlich vorgehalten werden. Dieser Aufwand würde für einen Landeplatz viel geringer, sagt Brützel, der unter anderem Professor für Aviation Management an der Internationalen Hochschule Bad Honnef war und Unternehmen der Luftverkehrsindustrie berät.
Brützel hält es allerdings auch für vertretbar, Flughäfen wie Kassel-Calden als Infrastruktureinrichtungen aufzufassen, die der Staat vorhalte wie Straßen. Wenn die Anteilseigner meinten, das eingesetzte Geld habe unter dem Strich positive Effekte, dann sei auch das ein plausibler Standpunkt.
Den Verkehrslandeplatz Kassel-Calden zu einem Verkehrsflughafen auszubauen war eines der zentralen Projekte des früheren hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU). Ein 1999 vorgelegtes Gutachten der Flughafen Frankfurt Main AG, der Vorgängerin der Fraport AG, kam zu dem für Kochs Pläne idealen Schluss, dass der Flughafen schon 2011 ein positives Betriebsergebnis erzielen könne. Diese Zuversicht der Frankfurter war den Grünen in Kassel so unerklärlich, dass sie eine Einflussnahme der Regierung Koch auf das Gutachten unterstellten.
Baufinanzierung aus Steuergeldern
Wie nicht selten bei Großprojekten, liefen in Kassel die Ausbaukosten aus dem Ruder – statt 151 Millionen Euro wurden es rasch 221 Millionen. 2010 ließ der damalige Finanzminister und Aufsichtsratsvorsitzende der Flughafen GmbH Kassel, Karlheinz Weimar (CDU), wissen, dass man die Mehrkosten an anderer Stelle im Haushalt des Landes einsparen werde. Das war nötig, weil der Ausbau in Kassel, anders als der in Frankfurt, eben kein privat finanziertes Großprojekt gewesen ist, sondern eines, für das Steuergeld eingesetzt wurde.
Daher forderte damals auch die Barig, ein Zusammenschluss von mehr als 100 in Deutschland tätigen Fluggesellschaften, das Kasseler Projekt angesichts der massiven Kostensteigerung zu stoppen. Weil keine solvente, seriöse Fluggesellschaft je die Absicht haben könne, von Kassel-Calden aus im Linienbetrieb zu fliegen, sei klar, dass der Flughafen dauerhaft vom Steuerzahler subventioniert werden müsse, äußerte der damalige Barig-Generalsekretär Martin Gaebges.
Die Warnung blieb ohne Folgen, die Prognose wurde Realität. Der langjährige Chef der Ferienfluggesellschaft Condor, Ralf Teckentrup, urteilte später: "Eine komplette Fehlinvestition."
Die geringen Verkehrszahlen hatten für Kassel-Calden in einem Punkt allerdings eine positive Konsequenz. In ihrem Kampf gegen staatliche Subventionen für Flughäfen ist die EU zu dem Schluss gekommen, dass angesichts des praktisch nicht vorhandenen Linienverkehrs in Kassel-Calden die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung durch staatliche Betriebskostenzuschüsse nicht gegeben sei. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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