Erinnerung an Holocaust: Von meinen Eltern, die den Holocaust überlebten, lernte ich, Deutschland zu verachten. Bin ich bereit zur Versöhnung?

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Meine Mutter war eine Überlebende des Holocausts, mein Vater verließ Deutschland Mitte der Dreißigerjahre, als Hitler an die Macht kam. Ich wuchs in Washington Heights auf — einem Stadtteil Manhattans, der wegen der vielen deutsch-jüdischen Einwohner als "Frankfurt am Hudson" bekannt war.

Die meisten meiner Freunde waren genauso wie ich Kinder von Überlebenden oder Flüchtlinge aus Hitlers Europa. Die meisten unserer Eltern sprachen, wenn überhaupt, dann nur wenig über den Holocaust, doch wir wuchsen im Schatten des Traumas auf. Wir waren von den Gespenstern von Familienmitgliedern umgeben, die die Schoa nicht überlebt hatten. Wir kannten die andauernden Ängste vor Verfolgung, den Druck, erfolgreich zu sein, ein Abscheu gegenüber allem Deutschen.

Obwohl ich deutschsprachig aufwuchs, wurde mir beigebracht, den Dialekt zu erkennen, der von Nichtjuden gesprochen wurde. Und wenn wir ihn während unserer seltenen Besuche im Viertel Yorkville in Manhattan hörten, wechselten wir diskret die Straßenseite. Meine Eltern boykottierten außerdem Produkte aus deutscher Herstellung.

Eine tiefe Abneigung gegenüber allem Deutschen

Als ich eingeladen wurde, am sogenannten Frankfurter Besuchsprogramm teilzunehmen – einer einwöchigen Veranstaltung für Kinder, deren Eltern vor und während des Holocausts in Frankfurt lebten –, war ich mir nicht sicher, ob ich daran teilnehmen möchte. Das von der Stadt Frankfurt organisierte und gesponserte Programm soll zeigen, wie das jüdische Leben in Frankfurt früher war – und wie es heute ist: mit einer lebendigen jüdischen Kultur und mehreren aktiven Synagogen.

Da ich mit einer tiefen Abneigung gegenüber allem Deutschen groß geworden bin, wollte ich kein Programm unterstützen, das die Deutschen auch nur im Geringsten von ihrer Verantwortung befreien würde.

Doch ich hatte längst mit einer persönlichen Reise begonnen. Immer mehr las ich über die Fortschritte bei der Aufarbeitung des Holocausts. Ich sprach mit einzelnen Deutschen über ihre Rolle beim Gedenken und der Versöhnung. Vielleicht, dachte ich, war es an der Zeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und den Gespenstern, die meiner Kindheit innewohnten, zu stellen.

Das Geschäft wird verwüstet – und anschließend geschlossen

Mein Großvater war Inhaber einer sehr erfolgreichen koscheren Metzgerei in Frankfurt. In der "Kristallnacht" im Jahr 1938 änderte sich für die Familie alles. Während dieses zweitägigen Nazi-Pogroms wurde das Geschäft verwüstet – und anschließend geschlossen. Die Gestapo stürmte die darüberliegende Wohnung meiner Familie und deportierte meinen Großvater nach Dachau. Als er ging, sagte er zu seiner Frau, sie solle sich keine Sorgen machen. Und sie solle auch nicht zur Gestapo gehen, um zu versuchen, ihn zu befreien. Schließlich habe er Deutschland im Ersten Weltkrieg verteidigt. Was auch immer jetzt geschehen würde, es würde vorübergehen.

Meine Großmutter hatte Schwestern, die in New York City lebten. Über sie konnte sie ein Visum für die Familie organisieren, um nach Amerika zu ziehen. Und entgegen dem Wunsch meines Großvaters ging sie wohl jeden Tag zur Gestapo und bemühte sich um seine Entlassung.

"Er war nie wieder derselbe"

Meine Mutter erzählte uns darüber diese Geschichte: "Sechs Wochen nachdem mein Vater deportiert worden war, wachte ich eines Nachts um zwei Uhr auf und hatte das Gefühl, er kommt nach Hause. Ich rannte zum Bahnhof und da war er, auf dem Heimweg, weinend. Er weinte wochenlang. Er war nie wieder derselbe."

Die nun wiedervereinte Familie ließ alles in Frankfurt zurück und machte sich im März 1939 auf den Weg nach New York City, um ihr Leben neu aufzubauen.

Ich war überrascht, als meine Eltern vor mehr als 20 Jahren beschlossen, an einem Programm teilzunehmen, bei dem Überlebende und Flüchtlinge in ihre Heimatstädte in Deutschland eingeladen wurden. Ich war gegen den Besuch, aber meine Eltern setzten sich durch. Mein Vater sprach damals oft von seinem idyllischen Dorf, Hünfeld bei Fulda, und zeigte plötzlich Interesse, es wiederzusehen. Als er dann in seine Heimat zurückkehrte, wurde er wie ein VIP behandelt. Diese Reise wurde ein schöner Abschluss seines Lebens, denn er verstarb nur wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Amerika.

Ich begann, meine Haltung gegenüber den Deutschen zu ändern, als mir einige Freunde von ihren positiven Erfahrungen mit dem Stolpersteine-Programm erzählten. Seit 1992 werden kleine Messingtafeln oder "Stolpersteine" vor den Häusern verlegt, an denen die Opfer der Nazis lebten, arbeiteten und studierten.

Meine Freunde waren froh über diese Möglichkeit, an ihre Familien zu erinnern und bei den Verlegungen der kleinen Denkmäler dabei zu sein. Also entschloss auch ich mich, mit einem einfachen Wunsch im Herzen, daran teilzunehmen. 2022 reiste ich nach Frankfurt, um die Verlegung von vier Stolpersteinen vor dem damaligen Wohnhaus meiner Mutter zu erleben – jeweils einen für meinen Großvater, meine Großmutter, meine Mutter und meinen Onkel.

Der nächste Schritt auf meiner persönlichen Reise war etwas komplizierter: Ich nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Ich hatte nie daran gedacht, einmal in Deutschland leben zu wollen. Aber schon länger, teils auch der politischen Entwicklung in den USA geschuldet, erschien es mir attraktiv, die Möglichkeit zu haben, nach Europa zu ziehen. Und nach einigen Reisen nach Deutschland begann ich, mir auch vorzustellen, wie es wäre, dort in einer internationalen Stadt wie Berlin oder Frankfurt zu leben. Im März 2022 beantragte ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Mein Einbürgerungszertifikat erhielt ich im Oktober desselben Jahres.

Nachdem ich die Staatsbürgerschaft erhalten hatte und mehr darüber erfuhr, wie in deutschen Schulen über den Holocaust unterrichtet wurde, wie Deutsche Flüchtlinge unterstützten und rechtsradikale Ideologien bekämpften, sah ich im vergangenen September auch keinen Grund mehr, nicht am Besuchsprogramm der Stadt Frankfurt teilzunehmen.

Besuche in Frankfurter Schulen

Während der Woche trafen wir uns mit Schülern, um ihnen von unseren Erfahrungen als Kinder von Überlebenden zu erzählen. Die Initiative zu diesen Schulbesuchen kam vom "Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt". Ich fragte die Schüler, wann und was sie über den Holocaust gelernt hatten und ob sie deswegen Reue empfanden. Die meisten von ihnen hatten das Gefühl, zu weit von den Ereignissen entfernt zu sein. Doch sie wollten mehr darüber erfahren, auch um sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Eine der Lehrerinnen, eine Frau in ihren Vierzigern, erzählte mir, dass ihre Großeltern nie über den Holocaust gesprochen hätten. Und dass sie, als sie als Jugendliche Europa bereiste, sich immer schämte, Deutsche zu sein.

Auch die Gegenwart spielte in den Gesprächen eine Rolle. Zum Beispiel wollten die Schüler etwas über Antisemitismus in Amerika angesichts der Krise im Nahen Osten wissen. Und ich erzählte ihnen, dass ich davon beeindruckt bin, wie Deutschland die Verantwortung für den Holocaust übernimmt – was sich auch darin zeigt, dass das Land Flüchtlinge aufnimmt, die vor Verfolgung, dem Klimawandel und anderen Katastrophen fliehen.

Da ich Gedichte schreibe, traf ich mich auch mit einer Gruppe von Studenten der Goethe-Universität, die Lyrik studieren. Sie wollten, dass ich ihnen Gedichte über meine Erfahrungen als Kind von Überlebenden vorlese. In der Vorlesung waren Deutsche, aber auch Flüchtlinge. Sie stellten mir Fragen zu meinem Schreibprozess und darüber, ob mir das Dichten dabei hilft, die Vergangenheit zu verarbeiten.

Ja, antwortete ich. Und dass sich das in den letzten Strophen eines Gedichts mit dem Titel "Mother’s Favorite Drawing" widerspiegele, das ich ihnen vorlas. Das Gedicht basiert auf einer Zeichnung von Käthe Kollwitz mit dem Titel "Mutter und Kind":

Mother wants to hang it over her bed in a spot

framed now by the shadow of the fire escape,

the steps and ladder imposed over mother and child

bracing them forever in flight.

Ich sagte ihnen, dass das Schreiben mir dabei hilft, mit den Gespenstern des Holocausts zu ringen, dass mir der Horror von Verfolgung und Völkermord aber immer bewusst bleiben wird. Und dass mir klar ist, dass auch wieder ein Moment kommen könnte, der einen dazu zwingt, fliehen zu müssen.

Ein Leben in zwei Welten

Meine Mutter sagte früher, der Holocaust habe mich mehr berührt als sie – auch deshalb, weil ich nie aufhörte, darüber zu lesen und Fragen zu stellen. Ich hatte das Gefühl, in zwei Welten zu leben. Eine, die von den Gespenstern der Vergangenheit bewohnt war. Die andere war unser komfortables amerikanisches Mittelstandsleben.

Ich versuchte immer, diese beiden Welten miteinander zu verbinden. Das brachte mich auch zum Aktivismus gegen heutige Völkermorde und andere Formen des Unrechts. Ich habe in einer Initiative gearbeitet, die auf den Genozid in Darfur aufmerksam machte. Und ich engagiere mich für Flüchtlinge aus Afghanistan.

Auf meiner Reise von Washington Heights nach Frankfurt entdeckte ich, dass die Versöhnung auf einem guten Weg ist.

Aus dem Englischen von Xenia Reinfels.

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Stewart Florsheim lebt in Kalifornien und hat die Anthologie "Ghosts of the Holocaust" herausgegeben. Seit 1980 lädt die Stadt Frankfurt verfolgte Juden sowie deren Kinder und Enkel zu Besuchen ein. Das "Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt" organisiert dafür Besuche in Schulen oder Hochschulen. Florsheims Artikel ist zuerst bei der Jewish Telegraphic Agency erschienen.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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