Am Ende war es keine filigrane Einzelleistung oder ein betörend schöner Spielzug. Es war eine Aktion des Willens, wuchtig und entschlossen ausgeführt. Fernando Torres hatte eine ungünstige Ausgangsposition, weil Philipp Lahm den kürzeren Weg zum Ball hatte und Jens Lehmann bereits aus dem Tor geeilt war.

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Torres, der sich in seinem ersten Jahr beim FC Liverpool schnell eine gewisse Härte und Robustheit angeeignet hatte, schob sich aber plötzlich geschickt an Lahm vorbei, drängelte sein Bein in Richtung Ball und lupfte den leicht an.

Über Lehmanns rechten Arm hinweg trudelte der Ball in Richtung lange Ecke, sein Einschlag knapp neben dem linken Pfosten sollte später das Ende einer 44-jährigen Agonie bedeuten. Spanien, der notorischen Verlierer von der Halbinsel, hatte endlich wieder Europas Thorn bestiegen.

"Die magische Nacht von Wien", wie die Sportzeitung "Marca" das Finale am 29. Juni betitelte, endete für die Furia Roja im totalen Triumph. Es war erst Spaniens zweiter Titelgewinn überhaupt, davor hatten stets hochtalentierte Mannschaften fast ein halbes Jahrhundert vergeblich an der Wiederholung des Erfolgs von 1964 gebastelt.

Das Ende einer teilweise verrückten Europameisterschaft mit vielen kleinen und großen Anekdoten sah einen verdienten Sieger. Spanien gewann alle seine sechs Spiele, die meisten davon in überzeugender Manier. Deutschland, das im Finale letztlich trotz des knappen 0:1 ohne echte Chance war, scheiterte einmal mehr in der Endphase eines Turniers.
Die Mannschaft von Joachim Löw, für den es das erste Turnier als Bundestrainer war, erlebte vier durchwachsene Wochen. Innerhalb der Mannschaft stimmte es nicht immer, dazu kamen schwankende Leistungen.

Der Auftakt gegen Polen war begleitet von völlig unnötiger Kriegsrhetorik des Gegners. Im Vorfeld der Partie bemühte die polnische Boulevard-Zeitung "Fakt" die Schlacht von Grunwald aus dem Jahr 1410 und forderten in einer zweifelhaften Fotomontage die Köpfe von Löw und DFB-Kapitän Michael Ballack, versehen mit dem Hinweis an die eigene Mannschaft: "Macht’s wie in Grunwald!"

Fast schon zwangsläufig entschied dann ein gebürtiger Pole die Partie - allerdings für die deutsche Mannschaft: Lukas Podolski gelang gegen sein Heimatland ein Doppelpack. Der Start in Gruppe B hätte besser nicht sein können - und trotzdem flogen schon ein paar Tage später im deutschen Lager die Fetzen.

Die verdiente Niederlage gegen Kroatien baute nicht nur enormen Druck auf das Team auf, spätestens am Tag nach dem 1:2 von Klagenfurt spaltete sich die Mannschaft in zwei Gruppen. Auslöser aller Debatten war die so genannte Pool-Affäre. Während es sich einige Spieler samt Ehefrauen und Kindern am Pool gemütlich gemacht hatten, forderte die Fraktion um Ballack die lückenlose Aufbereitung der Pleite gegen Kroatien.

Die Tage bis zum entscheidenden Spiel gegen Co-Gastgeber Österreich waren explosiv, ein Scheitern gegen den kleinen Bruder wäre einer sportlichen Katastrophe gleich gekommen, Bundestrainer Löw seinen Job nach weniger als zwei Jahren schon wieder los gewesen.

Natürlich rauschte es gewaltig in den Medien, die das Spiel im Ernst-Happel-Stadion auf beiden Seiten zur nationalen Angelegenheit ausriefen. Die Stimmung war gereizt, Österreich benötigte nach nur einem Punkt aus zwei Spielen einen Sieg, um doch noch ins Viertelfinale einzuziehen.
Am Ende reduzierte sich die Partie auf drei fast schon historische Szenen: Mario Gomez‘ Nicht-Tor, als der Mittelstürmer einen Ball 50 Zentimeter vor dem Tor nicht in selbigem unterbringen konnte. Dann auf die lächerliche Platzverweise für die beiden Trainer Löw und Peppi Hickersberger, die vom spanischen Schiedsrichter Manuel Mejuto Gonzalez auf die Tribüne verbannt wurden.
Und natürlich Ballack Kawumm-Tor, diesen Gewaltfreistoß, der Deutschland das 1:0 und damit den Einzug ins Viertelfinale sicherte. Gruppensieger wurde allerdings Kroatien, das alle drei Vorrundenspiele gewann.

In den anderen Gruppen war es ähnlich dramatisch: Für die Schweiz war die EM im eigenen Land quasi nach dem ersten Spiel schon wieder vorbei. Neben dem 0:1 im Eröffnungsspiel gegen Tschechien verloren die Eidgenossen auch noch Torjäger Alex Frei mit einem Kreuzbandriss. Am letzten Spieltag kam es zum "Finale" zwischen Tschechien und der Türkei.
Die Tschechen führten eine Viertelstunde vor Schluss mit 2:0 und brachen doch noch komplett ein. Die Comeback-Türken drehten die Partie dank zweier Treffer von Nihat Kahveci binnen 100 Sekunden und zogen mit dem 3:2 doch noch neben Portugal in die K.o.-Runde ein. Es sollte nicht das letzte Last-Minute-Schnippchen der Türken bleiben…

In Gruppe C zauberte sich die Niederlande in den Status des großen Titelfavoriten. Die Elftal fegte in der Todesgruppe Italien (3:0), Frankreich (4:1) und Rumänien (2:0) vom Platz. Im entscheidenden Spiel um den zweiten Platz setzte sich Weltmeister Italien dann gegen Frankreich durch. Die Equipe Tricolor war die große Enttäuschung des Turniers, musste am Ende mit nur einem Punkt und 1:6 Toren die Heimreise antreten. Coach Raymond Domenech durfte aber trotzdem bleiben…

In Gruppe D marschierte Spanien unbeirrt durch, gewann alle drei Vorrundenspiele. Dahinter entbrannte zwischen Russland und Schweden der Kampf um Platz zwei, mit dem besseren Ende für die Mannschaft von Guus Hiddink, die sich im entscheidenden Spiel 2:0 durchsetzte. Titelverteidiger Griechenland, vier Jahre zuvor noch sensationell Europameister, flog mit null Punkten und nur einem erzielten Törchen hochkant aus dem Wettbewerb.

Vor dem Viertelfinale gegen Portugal stand Löw im Mittelpunkt. Der Bundestrainer würde die Partie im VIP-Bereich erleben müssen, nach seinem Platzverweise gegen Österreich sperrte ihn die UEFA für eine Partie. Co-Trainer Hansi Flick war jetzt der erste Mann im Fußball-Land. Davor hatte sich Löw aber eine entscheidende Rochade überlegt.

Das 4-4-2 funktionierte bisher eher mittelprächtig, zudem galt es, Cristiano Ronaldo irgendwie aus dem Spiel zu nehmen. Also stellte Löw auf ein 4-2-3-1 um. Es sollte das beste Spiel der deutschen Mannschaft im Turnierverlauf werden - und das Spiel des Bastian Schweinsteiger. Am dem war die EM bis dato völlig vorbeigelaufen, im ersten Spiel saß er nur auf der Bank, gegen Kroatien flog er wegen einer Dummheit mit Rot vom Platz und verpasste somit die Partie gegen Österreich.
Immerhin hatte der Boulevard Schweini schon vorher als neuen Liebling entdeckt. Jetzt zeigte der Münchener endlich auch auf dem Platz sein Können. Ein Tor und eine Vorbereitung Schweinsteigers sicherten den verdienten 3:2-Sieg über Portugal und den Einzug ins Halbfinale.

Die restlichen drei Viertelfinalpartien waren deutlich dramatischer. Allen voran die Partie Kroatiens gegen die Türkei. 119 Minuten lang passierte kaum etwas. Dann netzte Ivan Klasnic eine Minute vor dem Ende der Verlängerung für die Kroaten ein. Quasi im Gegenzug hauchte den Türken mit der letzten Aktion des Spiels und seinem Ausgleich wieder neues Leben ein.
Im Elfmeterschießen versagten dann gleich drei Kroaten die Nerven, während der Türkei drei Treffer zum 3:1 nach Elfmeterschießen reichten. Ebenfalls vom Punkt aus rettete sich Spanien ins Halbfinale. Gegen Italien gab es 120 Minuten lang keinen Treffer. Dann hielt Iker Casillas gegen de Rossi und di Natale und Spanien stand in der Vorschlussrunde.
Die große Überraschung gelang dem neuen Geheimtipp Russland. Gegen die favorisierten Niederländer überrollten physisch überlegene Russen den Gegner in der Verlängerung förmlich, der große Favorit hatte kaum noch etwas entgegenzusetzen und schied mit 1:3 nach Verlängerung verdient aus.

In Deutschland war die Stimmung vor dem Halbfinale gegen die Türkei angespannt. Während und nach der Partie wurden Ausschreitungen erwartet, regelrechte Horroszenarien gesponnen. Am Ende blieb alles friedlich, im Gegenteil: In den Großstädten feierten deutsche mit türkischen Fans sogar gemeinsam.

Weniger friedlich ging es in Basel zu. Wieder einmal schienen die Türken kurz vor Schluss zurück in eine Partie zu kommen, als Sentürk die deutsche 2:1-Führung (Schweinsteiger, Klose) egalisierte. Sekunden vor dem Abpfiff ereilte die Last-Minute-Türken aber dann selbst das Schicksal: Philipp Lahm vollendete eine der wenigen gelungenen Aktionen der Deutschen zum entscheidenden 3:2.

Kurios: Längere Phasen der Partie bekamen die deutschen TV-Zuschauer gar nicht mit. Ein heftiges Gewitter über Basel hatte zu einem Stromausfall geführt, das Live-Bild war über mehrere Minuten ausgefallen.
Im zweiten Halbfinale einen Tag danach endete die märchenhafte Reise der Russen abrupt. Spanien war an diesem Tag mindestens eine Nummer zu groß für die Sbornaja, auch wenn das 3:0 am Ende vielleicht um ein Tor zu hoch ausgefallen war.

Im Finale hatte Deutschland zehn vernünftige Minuten, entpuppte sich danach aber immer mehr als unterlegene Mannschaft und am Ende auch als beleidigter Verlierer. Lehmann attackiert danach Schiedsrichter Rosetti, Ballack zoffte sich vor den eigenen Fans mit Teammanager Oliver Bierhoff.

Spanien dagegen räumte alles ab: Die Mannschaft den Titel, David Villa wurde mit lediglich vier Treffern Torschützenkönig und Xavi zum besten Spieler des Turniers gewählt. Europa trug Rot-Gelb. Es war die Geburtsstunde der besten spanischen Mannschaft aller Zeiten und lediglich der Auftakt zu noch größeren Triumphen.

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