Es war ein langer Tag. Um kurz vor 22 Uhr fährt der elektrische VW-Bus auf der A4 Richtung Köln. Jochen Ott ist auf dem Weg nach Hause.
Er kommt von einem Termin im Bergischen. Die örtliche SPD hatte im Gasthaus "Jägerhof" in Bergneustadt zum Kneipentalk mit dem Fraktionsvorsitzenden im Landtag eingeladen. Thema war die angespannte Lage in den Kitas. Ott ist zufrieden damit, wie der Abend gelaufen ist. "Schwarz-Grün kriegt es nicht hin. Das hört man überall im Land, wenn man mit Erzieherinnen und Erziehern spricht."
Auch im "Jägerhof" war das gerade noch so. Die überwiegend weiblichen Besucher der bis auf den letzten Platz besetzen Runde beklagten die schlechten Rahmenbedingungen, unter denen die Arbeit in den Einrichtungen leidet. "Wir pfeifen aus dem letzten Loch", sagt eine Kita-Leiterin. Die Personaldecke sei so dünn, dass Gruppen oft schließen müssten. "Da kann die Politik doch nicht die Augen vor verschließen", ärgert sich die Erzieherin.
Ott zur Kitasituation: "Das System ist völlig unterfinanziert. Viele Träger stehen mit dem Rücken an der Wand"
Jochen Ott nickt. Ja, die Opposition werde nicht müde, die Missstände bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzuprangern und die Verantwortlichen zu benennen. Die SPD verlange ein Kita-Rettungspaket mit einem Umfang von über 400 Millionen Euro, aber an Schwarz-Grün perlten die Forderungen ab. "Das System ist völlig unterfinanziert. Viele Träger stehen mit dem Rücken an der Wand", sagt der Politiker aus Köln. "Mit dieser Politik lässt
Fast alle im Saal bekunden Zustimmung. Wäre in diesem Moment hier Landtagswahl, würde die SPD sicher 90 Prozent der Stimmen bekommen. Nicht nur in Bergneustadt hagelt es derzeit Beschwerden über Schwarz-Grün. In Düsseldorf haben kürzlich mehr als 32.000 Menschen gegen die geplanten Sozialkürzungen der Landesregierung im Etat 2025 demonstriert. Man sollte annehmen, dass die breite Kritik zu einem Booster für die größte Oppositionspartei würde. Aber das Gegenteil ist der Fall: In einer aktuellen Forsa-Umfrage liegt die CDU in NRW bei 41 Prozent, die SPD dümpelt dagegen bei 16 Prozent – das ist ein historischer Tiefstand. Geht das auch mit Ott nach Hause?
Die dramatische Talfahrt setzte bereits nach der schmerzhaften Wahlniederlage der damaligen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Jahr 2017 ein. Im vergangenen Jahr wurde die 20-Prozent-Marke erstmals unterschritten. Da hatte sich die SPD – zermürbt vom internen Streit und vom Frust über den erneuten Misserfolg bei der Landtagswahl 2022 - neu aufgestellt. Die Landtagsabgeordnete Sarah Philipp und der Bundespolitiker Achim Post übernahmen die Parteiführung. Jochen Ott löste den glücklosen
Zentraler Gegenspieler von Ministerpräsident Hendrik Wüst
Den Landtag nutzt er fortan als Bühne für die Kritik an der Regierungsarbeit. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde er zum zentralen Gegenspieler des Ministerpräsidenten. Am Mittwoch (18. Dezember) kommt es im Plenum bei der Haushaltsverabschiedung erneut zum Showdown zwischen Ott und Wüst.
Wer den Oppositionsführer in diesen Tag in seinem Landtagsbüro besucht, trifft auf einen Politiker, der ausgeglichen wirkt. Im persönlichen Umgang ist Ott freundlich und macht einen gut gelaunten Eindruck. "Jochen kommt bei den meisten Leuten spontan gut an. Sie mögen seine hemdsärmelige und kumpelhafte Art", sagt ein Weggefährte. Am Rednerpult hingegen zählt Ott zum Team Attacke. Im Schulministerium soll man drei Kreuze gemacht haben, als er den Job als schulpolitischer Sprecher abgab.
Bei der CDU herrscht aktuell Unmut über den Chef der Opposition. Dort ist man ziemlich sauer wegen eines Vorgangs, den allerdings nicht Ott, sondern die Kölner SPD zu verantworten hat. Die hatte in den sozialen Medien ein Foto des Ministerpräsidenten vor dem Kölner Bordell Pascha veröffentlicht. Ein peinlicher Vorgang. Wüst war tatsächlich nur dort, weil Ott ihn zu seiner Geburtstagsparty eingeladen hatte, die auf dem Odonien-Gelände gegenüber stattfand. "Ich habe allen Beteiligten und Betroffenen gesagt, was ich von so etwas halte", sagt Ott dazu. "Ich habe mich über den Besuch von Hendrik Wüst nämlich sehr gefreut."
Ott kennt das Gefühl, wenn es nicht rund läuft, und er kann mit Rückschlägen umgehen. Bei einem Wahlsieg im Jahr 2022 wäre er in einem Kabinett Kutschaty wohl Schulminister geworden. Doch es kam anders. Jetzt ist er selbst der Chef – und fährt schlechtere Umfragewerte ein als sein Vorgänger. "Für den Mist in Berlin kann der Jochen doch nix", sagt eine Abgeordnete aus dem Rheinland trotzig: "Es ist zum Mäusemelken".
Das schlechte Ansehen der gescheiterten Ampel-Regierung strahlt auch auf Ott ab
Tatsächlich bekommt Ott das schlechte Ansehen der Ampel-Regierung und die Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz zu spüren. Bei seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden gab es für ihn nur 73,5 Prozent der Stimmen. Ott sprach von einem "ehrlichen" Ergebnis. Eine Floskel, die von Politikern oft benutzt wird, wenn es nicht so gut läuft wie erwartet.
Ott weiß, wie schnelllebig das politische Geschäft sein kann. Fraglich ist allerdings, ob er bei einer Wiederauferstehung der SPD in der ersten Reihe stehen würde. In der Partei setzen viele darauf, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas für die Spitzenkandidatur gewinnen zu können. "Sollte Bärbel aber absagen, wäre Jochen sicher ein Favorit für die Spitzenkandidatur", ist sich einer der SPD-Oberbürgermeister sicher.
Ott äußert sich nicht zu solchen Szenarien, aber er arbeitet an seiner Außenwirkung. Er wollte nicht, wie seine Amtskollegen, in einer schwarzen Limousine durch das Land reisen. Also bestellte er einen elektrischen Bulli. Das Gefährt soll Fortschrittlichkeit und Erdverbundenheit zugleich ausdrücken. "Schwarze Limousine, abgedunkelte Scheiben – das bin ich nicht", sagt Ott. "Bus mit Platz fürs Team – das passt mehr zu mir. Als Oppositionsführer bin ich viel im Land unterwegs, da ist ein Elektro-Bulli auch ein Zeichen für nachhaltige Mobilität."
"Bus mit Platz fürs Team – das passt mehr zu mir"
Einst galt die NRW-SPD als "Herzkammer" der Sozialdemokratie. Ott geht davon aus, dass das Wählerpotenzial groß genug ist, um perspektivisch wieder stärkste Kraft zu werden. "Wir müssen raus zu den Menschen. Viele Familien wissen aus eigener Erfahrung, dass es unter Schwarz-Grün keine Fortschritte gegeben hat. Im Gegenteil: Bei Bildung, Infrastruktur und Sicherheit ist nichts besser, sondern vieles schlechter geworden."
In Otts Büro steht ein Druck des Graffitikünstlers Banksy. Es zeigt ein Mädchen mit einem Luftballon in Herzform, der im Original rot ist. Seine Töchter haben den Ballon in pink eingefärbt. Der Titel des Bildes passt zu Ott. Er lautet: "There is always hope." © Kölner Stadt-Anzeiger
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