Etwas ist kaputtgegangen zwischen Salman Nasir und Deutschland, und es wird nicht wieder heil. Der 44-Jährige arbeitet im Management eines schwedischen Unternehmens in Berlin.

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Noch sei zu klären, wer sich von den in Westdeutschland lebenden Geschwistern um die pflegebedürftigen Eltern kümmern wird, erzählt er in einem Café in Weißensee. Sobald die Familie eine Lösung gefunden hat, will Nasir mit seiner Frau alle Zelte in Berlin abbrechen und nach Dubai ziehen. 85 Prozent der Einwohner in der Glitzermetropole am Persischen Golf sind Ausländer. Menschen aus 200 Nationen, unter ihnen auch viele Europäer, erwirtschaften den Reichtum des muslimischen Emirats.

Laut einer wenige Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen veröffentlichten Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim), der Universität Leipzig und anderer Hochschulen ist Nasir mit seinen Auswanderungsplänen nicht alleine. Jeder Fünfte denkt der Erhebung zufolge in Deutschland darüber nach, wegen des Erstarkens der AfD auszuwandern oder innerhalb Deutschlands umzuziehen. Die Forscher befragten schon Monate vor den Wahlen im März bundesweit 3000 Personen.

Das Medienunternehmen Correctiv hatte im Januar über ein Treffen von Politikern der AfD und anderer Parteien in Potsdam berichtet. Laut Correctiv wurde dabei unter dem Oberbegriff "Remigration" auch über die Ausweisung von Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Die Veröffentlichung löste eine Debatte um ein Verbot der AfD aus. Hunderttausende versammelten sich aus Protest gegen die Partei bei Kundgebungen im ganzen Land.

Befragte mit Migrationshintergrund äußerten der Dezim-Studie zufolge besonders häufig den Gedanken, aus Deutschland wegzuziehen. Knapp zehn Prozent hatten laut Umfrage bereits konkrete Pläne entwickelt. Ein Viertel denke übers Auswandern nach. Rund zwölf Prozent aus dieser Gruppe wollen innerhalb Deutschlands umziehen, sollte in ihrem Bundesland die AfD in Regierungsverantwortung kommen. Jeder Dritte hält das für möglich.

Auch knapp zwölf Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund spielen laut der Erhebung mit dem Gedanken, wegen der AfD Deutschland zu verlassen. Knapp zwei Prozent gaben an, bereits die Auswanderung zu betreiben. Jeder siebte Deutsche ohne Migrationshintergrund will aus einem Bundesland mit AfD-Regierungsbeteiligung wegziehen. Gut drei Prozent suchen bereits nach einem Wohnort in einem Bundesland mit schwächeren Ergebnissen für die AfD.

Die AfD landete bei den Wahlen am 1. September in Thüringen mit 32,8 Prozent auf dem ersten Platz. In Sachsen lag sie mit 30,6 Prozent nur knapp hinter der CDU. Die Ergebnisse scheinen Nasir nicht besonders zu berühren. "Wir wissen doch jetzt schon, wie das in Brandenburg ausgeht", sagt er. Der Landtag wird in dem Bundesland am 22. September gewählt. Die AfD liegt in Umfragen vorne.

Nasir spricht in einem betont sanften Ton. Als würde er einem Kind erklären, dass abends die Sonne untergeht. Für ihn steht fest, dass die AfD vielleicht nicht bei der nächsten, aber wahrscheinlich bei der übernächsten Bundestagswahl in Regierungsverantwortung kommt.

Nasir erzählt seine Geschichte, nachdem er Mineralwasser und Kaffee bestellt hat. Die Eiswürfel im Glas schimmern grün. Sie schmecken nach Limonade. Nasir wuchs in Bielefeld auf. Seine Familie hat pakistanische Wurzeln. Er lebte während des Studiums für einige Zeit in Münster. In Bielefeld sei alles "okay" gewesen, in der Universitätsstadt Münster "super". Die Probleme hätten erst in Berlin angefangen, erzählt er. Es begann eine Entwicklung vom Unbehagen im eigenen Land zum unumkehrbaren Beschluss, Deutschland den Rücken zu kehren.

Nasir zog seiner in Australien geborenen Frau zuliebe in die Hauptstadt. "Sie hat in Australien Jura studiert und einen Job bei einer internationalen Firma gesucht", erklärt Nasir. Das Paar fand eine Wohnung in Heinersdorf. Ein Zuhause scheint der Ortsteil von Pankow nie geworden zu sein. Seine Frau trage Kopftuch, sagt Nasir. Als sei das Erklärung genug.

Was macht Nasir so sicher, dass sich die Bundesrepublik so dramatisch verändern wird? Parteien wie die AfD waren in anderen europäischen Ländern schon viel früher in den Parlamenten. Der AfD gelang der Einzug in den Bundestag erst 2017. Internationale Medien und Experten rühmten noch vor einem Jahrzehnt die Stabilität des politischen Systems in Deutschland. Es schien in Maß und Mitte zementiert zu sein.

Nichtweiße Menschen und Muslime hätten früher als die Mehrheitsgesellschaft bemerkt, dass sich Deutschland nach zaghafter Öffnung wieder wie eine Auster verschließe, erklärt Nasir. Er glaubt, dass Deutschland sich besonders schwertut, Andersartigkeit innerhalb der Bevölkerung auszuhalten. Das Selbstbild der Deutschen sei homogen. Das habe mit der Geschichte zu tun, besonders im bis 1989 von der Außenwelt isolierten Osten. "Ich werde mit über 40 noch von Fremden angesprochen, dass ich aber gut Deutsch spreche als Ausländer", erzählt der Manager.

Als Mesut Özil 2018 nach seinem Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan die deutsche Nationalmannschaft verließ, sei es ihm wie vielen deutschen Muslimen gegangen, sagt Nasir. "Ich konnte Özil verstehen. Er war Deutscher, solange er gewonnen hatte, und als er verloren hatte, war er wieder Migrant." Er habe damals zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob er in Deutschland eine Zukunft habe.

Heute kaum vorstellbar, drehte sich die Migrationsdebatte noch vor gut einem Jahrzehnt eher um Öffnung als um Abschottung. Der demografische Knick machte sich am leer gefegten Arbeitsmarkt bemerkbar. Ausländische Fachkräfte sollten Lücken füllen. Wirtschaft und Politik sprachen von einer "Willkommenskultur" gegenüber Einwanderern. Nasir hatte schon damals Zweifel, ob diese Haltung auch in deutschen Betrieben Einzug halten würde.

Der Manager arbeitete in Berlin zunächst für ein internationales Unternehmen. Diversität sei in dieser Firma großgeschrieben worden. "Die Kollegen kamen aus allen möglichen Ländern", erzählt er. Nasir bemerkte den Unterschied, als er zu einem deutschen Unternehmen wechselte. "Die Zusammenarbeit lief professionell", sagt er. Er habe aber in Flurgesprächen gehört, dass die Kollegen lieber mit Europäern zusammenarbeiten würden als mit Mitarbeitern mit nichteuropäischer Herkunft. "Wegen der gemeinsamen Kultur, hieß es", erinnert sich Nasir. Der Manager wechselte schließlich zu einem schwedischen Unternehmen. Die Haltung hier ähnelt der bei der internationalen Firma.

Gehässigkeiten im Alltag an ihrem Wohnort in Heinersdorf setzten dem Ehepaar Nasir über die Jahre immer mehr zu. "Es trifft besonders meine Frau, weil sie Kopftuch trägt. Sie fühlt sich nicht wohl, sobald sie auf der Straße ist", sagt Nasir. Er berichtet von Keifereien im Supermarkt und Beleidigungen im Bus. Ihn erschrecke, dass Menschen in der Nachbarschaft keine Hemmungen hätten, seine Frau in der Öffentlichkeit zu attackieren. "Und es wird immer schlimmer. Die Menschen fühlen sich ermutigt, ihren Frust an ihr auszulassen. Sie finden das völlig in Ordnung."

Für Nasir verläuft die steigende Frequenz der Feindseligkeiten parallel zu den steigenden blauen Balken der AfD bei Umfragen und Wahlergebnissen. Nach den Europawahlen im Juni hätten seine Frau und er die endgültige Entscheidung getroffen, Deutschland zu verlassen. Der AfD sei es gelungen, den anderen Parteien den Diskurs zu diktieren. "Mich wundert es, dass nur noch über Migranten gesprochen wird. Und es ist egal, wie viel ich arbeite oder Steuern zahle. Ich bin für Deutschland ein Problem", sagt er.

Nasir ist kein Migrant. Er bezeichnet sich im Gespräch aber immer wieder selbst so. Die nach dem Anschlag von Solingen noch intensiver geführte Debatte dreht sich um die Begrenzung illegaler Einwanderung und die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Offiziell ist das auch der Standpunkt der AfD. Sie will unter dem mit dem umstrittenen Treffen in Potsdam im Januar verknüpften Begriff "Remigration" die konsequente Rückführung illegal sich in Deutschland aufhaltender Ausländer verstanden wissen. Warum fühlt sich Nasir gemeint?

Er hält die von manchen als unzureichend belegt kritisierten Aussagen des Correctiv-Berichts zu den Remigrationsplänen der AfD für glaubwürdig. Sie spiegelten das Verhalten vieler Menschen in Deutschland wider. "Ich weiß, dass manche AfD-Wähler sich freuen, wenn Menschen wie ich freiwillig gehen", sagt er. Er ist sich bewusst, dass er mit seiner Berufserfahrung in der Wirtschaft privilegiert ist. Er kann sich in einem anderen Land ein Leben aufbauen. Andere in ähnlicher Lage zögerten, weil ihre Existenz am Leben in Deutschland hänge, schildert Nasir.

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Es gehe ihm darum, die Dinge rechtzeitig in die Wege zu leiten, bevor Entscheidungen Hals über Kopf getroffen werden müssten, sagt er. Vielleicht sei es tatsächlich besser, wenn Menschen mit anderen zusammenleben, die ihnen möglichst ähnlich seien. So argumentiert die rechte Identitäre Bewegung gegen Einwanderung. "Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann ich dem allerdings nicht zustimmen. Diverse Firmen sind nachweislich erfolgreicher", sagt Nasir.  © Berliner Zeitung

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